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Descartes’ modernität






oder: Was ist eigentlich modern an der Cartesischen Philosophie*

Römische Richter wußten: pater semper incertus. Moderne Philosophen wußten es offenbar besser. Zu oft haben zu viele von ihnen im Brustton der Überzeugung von dem «Vater der modernen Philosophie» gesprochen, und erstaunlicherweise haben sie (fast) immer denselben gemeint – überflüssig zu sagen wen, ein Jahr nach seinem vierhundertsten Geburtstag. Ich rümpfe darüber auch nicht die Nase. Schließlich verdanke ich die Plausibilität meines Themas diesem Vaterschafts-Gemeinplatz.

Ein Vater ist eindeutig bestimmbar, wenn das Kind eindeutig bestimmt ist. Aber wie ist das mit der modernen Philosophie? Wenn man darunter die neuzeitliche Philosophie versteht und unter dieser wiederum einfach die mereologische Summe von allem, was seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika an Philosophie vorgekommen ist, so ist das zwar eindeutig, aber man wüßte gerne, was an dieser Summe eigentlich modern ist. Damit rückt das Wort «modern» in den Fokus unserer Aufmerksamkeit, und ein Exkurs über das lateinische Adjektiv «modernus» ist unvermeidlich.

Abgeleitet von dem Temporaladverb «modo», das so viel bedeutet wie «gerade eben», steht es zunächst für die flüchtige Eigenschaft dessen, was an Moden, Manieren, Meinungen und dergleichen neuerdings auf dem Markt ist. Die Flüchtigkeit solcher Modernität spiegelt nur den Indexcharakter des Adverbs «modo» wider. Derart modern genannte Dinge sind deshalb nicht etwa selbst flüchtig. Im Gegenteil, nur dauerhafte Gebilde werden, nachdem sie eine Zeitlang modern waren, zu Antiquitäten, z.B. die Cartesische Philosophie, die so gesehen heute schlecht modern sein kann, weil sie dafür nach vierhundert Jahren schon zu lange auf dem Markt ist. Auch unter Philosophen ist der Gebrauch des Wortes «modern» in diesem rein temporalen Sinn bis ins Mittelalter der geläufigste gewesen.[58] Der die Gemüter am meisten bewegende Sinn, in dem es verstanden werden kann, ist er zweifellos nicht.

Ein zugespitztes Interesse weckt der Kontrast von Modernem und Antikem, wenn mit der Altersdifferenz ein Wertgefälle einhergehen soll, der Zündstoff für einschlägige Querelen. Nun, wer mit den Wörtern «modern» und «antik» Beifall oder Mißbilligung artikuliert, wertet mit dem, das er für sich und das Seine reserviert hat, affirmativ, mit dem anderen negativ: Der wertende Gebrauch der beiden Wörter bleibt indexikalisch, aber er absorbiert den ursprünglich temporalen Sinn. Jüngere, rein zeitlich also moderne, Apologeten antiker Doktrinen wird nämlich keine Partei als moderni bewerten wollen, wie auch umgekehrt längst verblichene Vorreiter echter Modernität weder im re– noch im despektierlichen Sinn antiqui zu nennen wären. Sorgen beide Parteien nur dafür, daß die Etiketten «modern» und «antik» stets im Sinne der eigenen Bewertung verteilt werden, müssen es am Ende dieselben Gegenstände sein, die damit einvernehmlich auseinandergehalten werden: Die entgegengesetzten Bewertungen „kürzen» sich weg. So geschah es auch im mittelalterlichen Universalienstreit: Irgendwann galten als moderni bei jedermann die Nominalisten (einschließlich der älteren Wegbereiter), als antiqui dagegen die Realisten (einschließlich ihrer jüngsten Mitstreiter).[59]

Was die Philosophie im allgemeinen betrifft, bevorzuge ich einen dritten Gebrauch des Wortes «modern», in dem sein ursprünglich temporaler Sinn ebenfalls absorbiert ist durch den evaluativen: Modern ist danach genau das, was ich jetzt akzeptieren kann, alles andere ist obsolet. Die Modernität von Themen, Thesen oder Theorien bemißt sich also nach dem Grad der Übereinstimmung mit dem, wovon ich gegenwärtig überzeugt bin – ein unübersehbar egozentrischer, also indexikalischer Gebrauch, der stets eine affirmative Bewertung ausdrückt. Daran ändert sich nichts, wenn ich als Bezugsrahmen statt meiner unsere Überzeugungen ansetze – was ich im folgenden allein schon des Tonfalls wegen tun werde.

So läßt sich der Inhalt philosophischer Texte als modern bewerten unabhängig davon, wielange sie schon auf dem Markt sind: Wenn wir eine Überzeugung teilen können, ist sie modern, punctum; wenn nicht, ist sie entweder obsolet oder jenseits der Grenzen dessen, was wir verstehen, d.h. als wahr oder falsch zu bewerten uns trauen. So können wir viele moderne Antiquitäten entdecken, und der Moderne eine Grenze in der Zeit zu ziehen, hinter der es post-modern zugeht, wird selbst obsolet. Modern ist nach diesem Verständnis in der Philosophie alles, worauf blickend wir sagen können, was Hegel von der Cartesischen gesagt hat: «Hier sind wir zu Hause.»[60]

Ist es aber nicht Anmaßung, alte Texte und ihren Inhalt den eigenen Maßstäben und womöglich der neusten Mode zu unterwerfen? Macht das nicht blind wird für historische Spezifika? Sicher, es gibt Beispiele solcher Blindheit. Aber das liegt nicht daran, daß mit dem Stellen der Wahrheitsfrage – und nichts anderes verbirgt sich hinter dem von mir bevorzugten Gebrauch des Wortes «modern» – unweigerlich die eigenen Maßstäbe angelegt werden. Es liegt nur daran, daß diese Frage schlecht beantwortet wird. Die historische Spezifität alter Texte auszumachen, setzt deren Verständnis voraus; und man versteht nur, was man (auch) mit eigenen Worten zu sagen vermag. Das Verständnis der eigenen Worte aber bekundet sich vor allem darin, daß wir, was diese zum Ausdruck bringen, als wahr oder falsch zu bewerten vermögen. Insbesondere philosophische Texte lassen sich also nicht verstehen, auslegen oder interpretieren, ohne im Hinblick auf ihren mutmaßlichen Inhalt die Wahrheitsfrage zu stellen; und wir tun das, indem wir diesen Inhalt in einem vertrauten Idiom, dem natürlichen Medium unseres Fürwahrhaltens, zu reformulieren suchen. Vor übereilten Verdikten über den so ermittelten Inhalt schützt die hermeneutische Charité, die gebotene Billigkeit, das Wohlwollen des Interpreten.[61] Alló agoreúei: Was anderes ist gemeint, könnte jedenfalls gemeint sein! Die Mahnung gebietet dem Interpreten, durch Aufdecken eines nicht offensichtlichen Sinnes (der ja nicht immer ein wirklich allegorischer zu sein braucht) den Einklang zwischen seinen Überzeugungen und dem Inhalt des auszulegenden Textes, so gut es geht, wiederherzustellen, wo immer er bedroht ist. Zur Suspension der Wahrheitsfrage fordert diese ehrwürdige hermeneutische Maxime gerade nicht auf.[62] Diese Frage, mit der wir unsere Maßstäbe ins Spiel bringen, ist vielmehr das einzige Vehikel, auf dem wir der Maxime folgen können. Im übrigen muß man die eigenen Maßstäbe ja auch ins Spiel bringen, um sie aufs Spiel zu setzen, und das tut, wer vom auslegenden Text zu lernen bereit ist.

Die so verstandenen Wörter «modern» und «obsolet» sind mit hermeneutischem Takt zu gebrauchen. Nicht alle Diskrepanzen zwischen dem mutmaßlichen Inhalt eines Textes und den eigenen Meinungen des Interpreten wiegen gleich schwer. Oft kann man Meinungen, die einem zuwider sind, als spezifische Versionen generellerer Anschauungen identifizieren, die man durchaus zu teilen imstande ist. Ein Beispiel: Descartes meinte, das Wesen materieller Gegenstände, die Natur der Materie, sei nichts anderes als Ausdehnung. Diese Meinung teilen wir nicht. Also ist sie obsolet. Sie ist aber auch eine bestimmtere Ausprägung der generelleren Meinung, daß Wesen oder die Natur materieller Gegenstände sei in der Sprache der Mathematik anzugeben. Das klingt kaum obsolet. Schließlich war das Motiv, das Descartes für beides hatte, seine Präferenz für eine mathematische Physik. Das ist selbst dann, wenn seine Ansichten über die Gestalt einer solchen Physik etwas anders sind als die Ansichten moderner Physiker, gewiß ein modernes Motiv.

So oder so ähnlich können wir bei Descartes (wie bei jedem anderen älteren Philosophen) neben allerlei obsoleten Lehrstükken gewiß auch einige moderne Motive entdecken. Für den «Vater der modernen Philosophie» wäre das allerdings zu wenig. Bei dem erwarten wir, daß unter den modernen Motiven mindestens eines ist, das sowohl für sein Denken wie auch für die moderne Philosophie insgesamt zentral ist.

An vertrauten Beschreibungen der historischen Bedeutung Descartes’, die das bezeugen, herrscht kein Mangel. – Mit und durch Descartes, so haben wir gelernt, seien das Bewußtsein, das Selbstbewußtsein, überhaupt die Subjektivität zum dominierenden sujet einer Philosophie geworden, welche «die spezifisch-moderne Grundanschauung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt«[63] hervorgebracht habe. Descartes sei der Entdecker jenes neuzeitlichen Subjektes, das frei von den Zwängen der Tradition selbstbewußt sein «Cogito!» ruft, um danach die Welt als klaren und deutlichen Inhalt seines Denkens zu rekonstruieren und so als Objekt zu beherrschen. Und so weiter und so fort.

Es hat immer wieder Versuche gegeben, dieses durchschnittliche Bild der epochalen Bedeutung Descartes’ als «Mythos» zu entlarven.[64] Ein Motiv dafür war, daß die Merkmale der Modernität, die diesem Bild zufolge für das Cartesische Denken bezeichnend sein sollen, in Wahrheit viel älter seien. Ein ganz anderes Motiv, hier von einen «Mythos» zu sprechen, liefert die Vieldeutigkeit des durchschnittlichen Descartes-Bildes, die unter anderem darin zum Ausdruck kommt, daß es so unterschiedliche Bewertungen provoziert hat – und bis heute provoziert.

Manche haben die Darstellung Descartes’ als Begründer (oder Erfinder) der neuzeitlichen Subjektivität zugleich als Würdigung einer unhintergehbaren Einsicht und damit als Würdigung seines Beitrags zur modernen, sprich: wahren, philosophischen Einstellung verstehen wollen. Andere haben dieselbe Darstellung zum Anlaß genommen, einen unheilbaren Geburtsfehler nicht allein der neuzeitlichen Philosophie, sondern der ganzen Neuzeit zu diagnostizieren. Für sie ist das «neuzeitliche Subjekt» und die offene oder verdeckte Wertschätzung, die ihm in der Philosophie zuteil geworden ist, so etwas wie eine Quelle der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Aus der Heldenrolle, für die Descartes ursprünglich vorgesehen war, wird so die Rolle des Schurken, der direkt oder indirekt verantwortlich ist für das despotische Verhältnis des Menschen zum Rest der Natur, das zur ökologischen Katastrophe zu führen droht oder schon geführt hat. Ist Descartes also das personifizierte Sinnbild einer tiefen Zweideutigkeit der Moderne, der Neuzeit selbst?

Offen gestanden ist mir nicht wohl bei solchen Bildern. Sie werden ja auch fern von allen Quellentexten – meist im Feuilleton – immer weiter ausgemalt. Dennoch werde ich der Versuchung, jenes durchschnittliche Descartes-Verständnis, das solchen Bildern zugrunde liegt, als «Mythos» zu entlarven, nicht nachgeben. Ich glaube nämlich, daß es sogar dann unanfechtbar wäre, wenn man beweisen könnte, daß die Merkmale der Modernität, die ihm darin angehängt werden, entweder bereits früher in der Philosophiegeschichte zu finden sind oder gar nicht so gemeint waren, wie sie darin genommen werden. Dieses Verständnis ist in jedem Fall ein Erzeugnis der Wirkungsgeschichte. Diese ganz besondere Geschichte hat ihre Launen. Sie ist listig, ironisch, vergröbernd und ungerecht, aber sie begeht keine Fehler. Denn sie liefert niemals das Abbild einer unabhängig von ihr bestehenden historischen Bedeutung dessen, wovon sie ausgeht, vielmehr ist sie für dessen historische Bedeutung konstitutiv, was immer sie an Merkwürdigem hervorbringt.

Trotzdem, die Frage nach Descartes’ Modernität bleibt. Bevor ich darauf eine Antwort nach meiner Art gebe, will ich Sie auf einige Daten der Geschichte aufmerksam machen, die dazu geführt hat, daß Descartes im nachhinein wurde, was er für uns immer noch ist: «der Vater der modernen Philosophie«.

Der vom Neukantianismus dominierten Historiographie der Philosophie im 19. und frühen 20. Jahrhundert war dies schon selbstverständlich; und von ihr haben wir den Zuschnitt unserer philosophiehistorischen curricula geerbt, in denen Descartes’ Meditationen als ein besonders für Anfänger geeignetes Beispiel für den Anfang der «modernen Philosophie» gelten. (Heinrich Rickert hat das genau so ausgesprochen.) Für Kant aber und die Kantianer der ersten Generation war das noch überhaupt nicht selbstverständlich. Auf einer von Karl Leonhard Reinhold 1794 aufgestellten Liste der vier zum Verständnis der modernen Philosophie «unentbehrlichen Hauptbücher» ist Descartes mit keinem Titel vertreten: Ihn zu studieren war für jemanden, der, so Reinhold, «die bisherige Philosophie gründlich studieren und die Möglichkeit einer künftigen Philosophie als Wissenschaft richtiger beurtheilen» wollte, also durchaus entbehrlich.[65] Die unter Kants Einfluß stehenden Verfasser monumentaler Darstellungen der Philosophiegeschichte wie Wilhelm Gottlieb Tennemann und Johann Gottlieb Buhle sahen das nicht anders: Sie präsentierten Descartes als einen verdienten Mathematiker und Physiker des 17. Jahrhunderts, dessen «eigentliche Philosophie» (das war ihr Terminus) ihnen keiner weitergehenden Würdigung wert war. Bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts war Descartes für die philosophischen Öffentlichkeit in Deutschland (und nicht nur dort) eine eher randständige Figur, wie diejenigen bezeugen, die es anders sehen wollten, z.B. Hegels Schüler Johann Eduard Erdmann: «auf das Entschiedenste«, so wörtlich, dagegen protestierend, daß man Descartes «in der letztern Zeit … als unbedeutend hat darstellen und als solchen mehr ignoriren wollen«, hat Erdmann 1834 nicht nur behauptet, sondern aus dem Begriff der neuern Philosophie «deducirt«, daß Descartes es verdiene, als «Anfänger und Vater der neuern Philosophie» geehrt zu werden. Warum? Weil er «das Denken … als die Substanz des Geistes erfasst» habe. So sprach ein gelehriger Hörer von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die seinerzeit noch unveröffentlicht waren.

Es wäre voreilig, hieraus zu schließen, es sei allein Hegel und seinem Einfluß (z. B. auf einen Multiplikator wie den Namenspatron dieser Universität) zu verdanken, daß Descartes in der Folgezeit das fast ungeteilte Ansehen des ersten modernen Philosophen zuteil wurde. Die Geschichte der allmählichen Verbreitung dieses an sich so belanglosen Titels ist um mindestens eine Kuriosität reicher.

Als Descartes im nachkantischen Deutschen Idealismus zum «Vater der neuern Philosophie» proklamiert wurde, war diese Benennung schon fast zwei Generationen alt, und Pate gestanden hatte bei der ursprünglichen Erkennung auf Vaterschaft der Schotte Thomas Reid. In seiner Inquiry into the Human Mind (1764) wollte Reid die seinerzeit moderne Philosophie vor den skeptischen Anfechtungen zu bewahren, denen er sie durch Humes Treatise ausgesetzt sah. Verantwortlich für die darin zutagegetretenen monströsen Konsequenzen war nach Reids Diagnose das «System der Ideen«, und damit meinte er all die Theorien, nach denen es Ideen und eben nur sie als innere, mentale Stellvertreter äußerer Dinge sein könnten, was dem Geist unmittelbar gegenwärtig sei. Dieses System stamme in den Grundzügen von Descartes, alle neueren Philosophen – insbesondere Locke, Berkeley und Hume – hätten nur auf je eigene Weise die Konsequenzen daraus entwickelt, bis hin zu einem Skeptizismus, gegen den Reid zufolge nur ein common sense half, der sich über die Ausgangsprämisse des Systems der Ideen hinwegsetzte. Vor diesem Hintergrund stellte Reid fest, Descartes sei «the father of the new philosophy that relates to this subject «. Das war alles andere als der Ausdruck einer ungeteilten Anerkennung. Angesichts der Vorbehalte Reids gegenüber dieser «neuen Philosophie» war die Vaterschaft, die er Descartes antrug, weniger eine Ehre als vielmehr eine Last. Der Sprößling war zwar stattlich, aber auch mißraten. Reid sprach von einem «Trojanischen Pferd«, das zwar von außen «harmlos und wunderschön aussehe«, in seinem Innern aber «Tod und Verderben» berge «für jede Wissenschaft«. So ist der «Vater der modernen Philosophie«, den Reid in Descartes gesehen hat, gerade nicht so etwas wie der Gründer einer erfolgreichen Firma, dem dankbare Erben ihren Respekt bekunden, sondern eher ein Vater, für dessen Namen und Adresse man sich interessiert, weil Eltern für ihre Kinder haften.

Man möchte meinen, dieser Vater und derjenige, den Erdmann vor Mißachtung schützen wollte, gehörten unterschiedlichen (philosophischen) Welten an. Das kann man aber so nicht sagen. Reid war ein prominenter Autor, der nicht nur in Schottland oder England zur Kenntnis genommen wurde. Seine Inquiry into the Human Mind war ein vielgelesenes Buch, schon 1768 ins Französische übersetzt, und 1782 erschien auch eine deutsche Übersetzung. Mit Sicherheit wurde Reid in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Deutschland mehr Aufmerksamkeit geschenkt als heute, auch wenn seine Untersuchung des menschlichen Geistes neben der in diesen Jahren gleich in zwei Versionen vorgestellten Kritik der reinen Vernunft natürlich einen schweren Stand hatte.

Die beiden Versionen von Kants erster Kritik bieten übrigens das einzige darin enthaltene Stück, das einen bemerkenswerten Bezug zu Descartes aufweist, auch gleich in zwei Versionen. Ich meine die Widerlegung des Idealismus. Gemeinsam ist beiden Versionen die Zurückweisung des Descartes angelasteten «empirischen«, «problematischen» oder «sceptischen Idealism«. Zeitgenössische Kritiker Kants ließen sich nicht davon überzeugen, daß der von Kant als Alternative präsentierte «transzendentale Idealism» eine echte Alternative sei und zur definitiven Beseitigung jener Außenwelt-Skepsis tauge, die den «cartesianischen Idealism» ausmachte. Wenig beachtet, aber kaum zufällig ist, daß die einschlägigen Argumente von Feder, Gottlob Ernst Schulze und Jacobi in Thomas Reids Diagnose der «neuen Philosophie» eine Stütze fanden, und daß sie dabei Descartes als denjenigen nannten, über dessen Position Kant allem Bemühen zum Trotz nie hinausgekommen sei. Fichte besaß dann die Kühnheit, an der Kantischen Position just das, was diese Kritiker als bloß cartesianisch in Verruf zu bringen suchten, nämlich den Ausgang vom denkenden Ich und seinen Vorstellungen, zum eigentlich positiven Charakteristikum eines an Kant anzuschließenden Idealismus umzumünzen. Soweit Reid in diese Geschichte als Stichwortgeber eingegangen ist, war der ursprünglich kritische Impuls seiner Bezugnahme auf Descartes als Architekten des «Systems der Ideen» damit ins Gegenteil verkehrt.

Etwas ähnliches geschah zur selben Zeit in Frankreich aus eher weltanschaulichen und wissenschaftspolitischen Motiven, die gegen die Revolution und ihre vermeintlichen geistigen Wegbereiter gerichtet waren: Victor Cousin wollte von Reids Polemik gegen das «System der Ideen» nur noch den Teil der Kritik wahr haben wollte, der den sensualistischen Varianten galt, die er als Abirrungen von dem Weg darstellte, den Descartes eigentlich hatte weisen wollen. Reids Prinzipien des common sense wurden zu Nachfolgern der eingeborenen Ideen Descartes’ umgedeutet und aus Reids durchaus gebrochener Vaterschaftsbestimmung wurde die Éloge auf einen Vater, mit dem man sich identifizieren konnte, weil sein Erbe die Defizite einer empiristisch-materialistischen Weltanschauung zu kompensieren versprach.

Eine «erzählende Darlegung» (J.E. Erdmann) der Cartesischen Philosophie habe ich Ihnen bisher vorenthalten. Ich will nachholen, was noch nachzuholen ist. Welches sind die Thesen, Theoreme oder Gedankenfiguren, die Descartes (i) mit hinreichender Sicherheit zuzurechnen sind und die es (ii) verdienen, unter dem Gesichtspunkt seiner Modernität gewürdigt zu werden?

Es ist auch heute schwer zu bestreiten, was d’Alembert 1751 im Discours préliminaire zur Enzyklopädie notierte: Descartes sei entweder als Mathematiker oder als Philosoph anzusehen; und was er als Mathematiker zustandegebracht habe, mache «den sichersten und am wenigsten bestrittenen Teil seines Ruhmes» aus. Das bezog sich auf die Vereinigung von Geometrie und Algebra zu der uns wohlbekannten Analytischen Geometrie, die Descartes 1637 in seiner Géométrie skizziert hatte. Als Philosoph dagegen, fand d’Alembert, hatte Descartes «weniger Glück«. Das bezog sich – dem seinerzeitigen Gebrauch des Wortes «Philosophie» entsprechend – vor allem auf Descartes’ Physik: seine Optik, seine Bewegungsgesetze, seine Kosmologie. Und was d’Alembert vor Augen hatte, als er von weniger Glück sprach, war die eher kurze Lebensdauer, die den Cartesischen Theorien auf diesem Feld beschieden war, bis sie im Schatten Newtons verschwanden. – Als eine Figur der Wissenschaftsgeschichte, so kann man heute an das vor fast zweihundertfünfzig Jahren gefällte Urteil d’Alemberts anknüpfen, als eine Figur insbesondere der Geschichte der Mathematik und in Grenzen auch der Geschichte der Physik und Physiologie hat Descartes seinen Platz im Pantheon unserer Kultur so lange sicher, wie das kartesische Koordinatensystem und das kartesische Produkt so heißen, wie sie heißen. In dieser Hinsicht steht auch Descartes’ Modernität außerhalb jeden Zweifels.

Was nun Descartes’ «eigentliche Philosophie» angeht, ist die Sache schwieriger – d’Alembert z.B. wußte darüber gar nichts Positives zu sagen. Uns hingegen, die wir unter der Langzeitwirkung der neukantianischen Historiographie stehen, kommt als allererstes die Erkenntnistheorie in den Sinn. Aber hatte Descartes überhaupt eine eigentlich so zu nennende Erkenntnistheorie? Das kommt darauf an, ob man die Erkenntnistheologie, die er hatte, als eine Erkenntnistheorie durchgehen lassen möchte oder nicht. Interpretatorisch unredlich wäre es, von den massiven theologischen Stützpfeiler in seiner Konzeption des Wissens und der Erkenntnis abzusehen. Die Meditationen wären ein (im doppelten Sinne des Wortes) sehr dünnes Buch, wenn man daraus alle Sätze über Gott einschließlich ihrer logischen Konsequenzen striche. Man hätte dann zwar einen Text, in dem tatsächlich die momentane Selbstgewißheit eines denkenden Ich der unerschütterliche Grund allen Wissens wäre, aber dieser Grund würde gerade nur sich selbst begründen. Denn es käme nichts mehr. Das heißt, ohne die Inanspruchnahme theologischer Thesen böte uns Descartes nicht mehr als einen tristen Solipsismus des gegenwärtigen Augenblicks. Da nicht zu sehen ist, wie die erkenntnistheologischen Elemente so durch theologiefreie Versatzstücke zu substituieren wären, daß das Ergebnis immer noch als Rekonstruktion einer Cartesischen Theorie angesprochen werden kann, ist hier eine schwer überwindbare Hemmschwelle für jeden Impuls, Descartes als einen modernen Philosophen anzusehen: Hier stößt die hermeneutische Nachsicht an eine Grenze. Und daß es solche Grenzen gibt, hat, so meine ich, eine grundsätzliche Bedeutung.

Alle Versuche, in einem Philosophen den Vorläufer einer späteren Lehre zu entdecken, haben, wie gutgemeint sie auch immer sein mögen, einen Haken. In dem Maße, in dem ein älterer Philosoph als Vorläufer der vom Interpreten favorisierten modernen Lehre in Anspruch genommen wird, erscheint er auch als ein bemerkenswert inkonsequenter Tropf, der blind gewesen ist, für gewisse zwingende Folgerungen jener Einsicht, die er doch schon gehabt haben soll. Ein besonders krasses Beispiel hat uns Husserl beschert: Fast in einem Atemzug feierte er Descartes als den «eigentlichen Erzvater» seiner eigenen transzendentalen Phänomenologie und verdammte ihn als den – so wörtlich – «Vater des widersinnigen transzendentalen Realismus«. Dabei hatte er mit letzterem gewiß recht: Descartes war ein transzendentaler Realist, was für einen Erkenntnistheologen auch frei von jedem Widersinn ist. Doch an Husserls diesbezüglicher Kritik, will ich hier gar nichts aussetzen, ich möchte nur eine Kleinigkeit zu bedenken geben: Alle Indizien, die Husserl dafür zusammentragen konnte, daß Descartes (wie Husserl sagte) «seinen eigenen guten Anfang«, den Anfang bei einem reinen ego der transzendentalen Sphäre nämlich, gründlich mißverstanden habe, sind nach den Grundsätzen der hermeneutischen Billigkeit zugleich Indizien dafür, daß ebendieser «gute Anfang» gar nicht Descartes’ Anfang war.

Wer angesichts dessen als Interpret der internen Konsistenz der auszulegenden Texte den Vorzug gibt, sieht sich gezwungen, obsolete (bzw. ihm oder ihr obsolet dünkende) Partien als solche stehen zu lassen und zu markieren. Das Verständnis wird de-aktualisierend, historisierend. – Bleibt aber, mögen Sie fragen, wenn man sich Descartes an einer zentralen Stelle in dieser Haltung zu nähern hat, überhaupt noch etwas Nennenswertes von seiner «eigentlichen Philosophie» übrig, das als modern qualifiziert zu werden verdient? Ich denke schon. Und im letzten Teil dieses Vortrages werde ich darlegen, was dies – zum Beispiel – ist.

Substanzendualismus – das ist das Stichwort sein, unter dem der spezifisch Cartesische Dualismus vorzustellen ist. Und doch werden diese drei Silben – «Sub», «stan» und «zen» – gern verschluckt, wenn heute von dieser obsoleten Doktrin Descartes’ die Rede ist. Statt dessen ist meist von dem ontologischen Dualismus die Rede, den Descartes verfochten habe und den es mit Hilfe der Neuro-Disziplinen nun endgültig zu überwinden gelte.

Das ist ja das Merkwürdige: Mit seinem Dualismus ist Descartes bis auf den heutigen Tag der offenbar unerläßlichen Widerpart und Gegenpol, ohne den sich die famosen Erkenntnisse der Neuro-Denker aller Sparten nicht ins rechte Licht rücken ließen. Ärgerlich ist nur, daß dabei in der Regel die Zunft der gewöhnlichen Philosophen als eine Riege weltfremder Trottel dargestellt wird, denen bis heute nichts Besseres eingefallen sei, als Cartesische Formeln nachzubeten. Davon kann im Ernst nicht die Rede sein. Das einzige, was man den professionellen Philosophen vorhalten kann, ist, daß sie den Neurowissenschaftlern den ständigen abwehrenden Bezug auf Descartes als Widerpart und Gegenpol vorgemacht haben: Ungezählte Arbeiten zum Leib-Seele-Problem beginnen mit einer Beschreibung des ontologischen Dualismus der Cartesischen Art und seiner mehr oder weniger unzuträglichen Konsequenzen. Kaum eine Position aus der Geschichte der Philosophie wurde häufiger widerlegt – kein anderer Strohmann brennt so hell.

Wer vom ontologischen Dualismus redet, gibt zu verstehen, daß es auch andere Dualismen geben könnte. Wer etwas zum psycho-physischen Problem zu sagen hat, kann es offensichtlich nicht vermeiden Adjektive wie «psychisch» (bzw. «mental») und kontrastierend dazu auch solche wie «physisch» oder «physikalisch» zu verwenden. Das schließt irgendeine Unterscheidung zwischen Mentalem und Physikalischen, zwischen Psychischem und Physischen, ebenso offensichtlich ein. Wenn man nun den Cartesischen Dualismus als einen ontologischen Dualismus brandmarkt, dann soll das heißen, daß gegen anders gefaßte psycho-physische Dualismen gar nichts einzuwenden wäre. Das mag ein Dualismus der Begriffe sein, der Beschreibungen, der Aspekte oder der Phänomene, wie auch immer – Hauptsache, man verschont uns mit einem Dualismus veritabler ónta. Veritable ónta, echte Entitäten oder Dinge im gewichtigen Sinne des Wortes haben Anspruch auf den Titel «Substanz». So gesehen scheint der Umstand, daß der Cartesische Dualismus ein Substanzendualismus ist, sich darin zu erschöpfen, daß es sich um einen ontologischen Dualismus handelt. Was auf der Strecke bleibt, ist nur der ganz besondere Duft, den der Terminus «Substanz» verströmt.

Uns stört das nicht so sehr, weil dieser Terminus schon längst nicht mehr zum operativen Vokabular der Philosophen gehört, allenfalls wird er für historische Reminiszenzen gebraucht. Und außerhalb des philosophischen Sprachgebrauchs dominieren zwei Verwendungsweisen von «Substanz»: eine mehr chemische und eine mehr ökonomische. Die ökonomische Substanz ist das Betriebskapitel im Unterschied zu dem akzidentellen Ertrag, den es bringt, und Chemiker meinen mit «Substanz» schlicht und einfach einen Stoff, nicht nur elementare Stoffe wie Gold oder Helium, sondern auch zusammengesetzte wie Wasser oder PVC. Wir sind geneigt, Descartes’ Rede von denkender und ausgedehnter Substanz nach dem Vorbild der chemischen Rede von Substanzen zu nehmen. Seine These ist dann etwa so zu verstehen, daß es einen materiellen Stoff gibt (den er als Ausdehnung begriffen hat), aus dem u.a. alle spezifischeren Stoffe bestehen, für die sich Chemiker und ihre Kunden interessieren, und daneben noch einen immateriellen Stoff, aus dem der aktive Kern von menschlichen Personen besteht, ihre Seele, wie es altväterlich heißt) oder ihr Bewußtsein (wie man scheinbar modern dazu sagen kann).

Man braucht diese These nur auszusprechen. Massive Zweifel stellen sich von selbst ein. Die gröbste Zumutung ist die, daß von etwas vorgeblich Immateriellem wie von einem Stoff gesprochen wird – «Unstoff» scheint der angemessenere Titel zu sein. Doch die Zumutung ist nicht Descartes zuzurechnen. Es ist unser Versuch, uns nach unserem Verständnis von «Substanz» zurechtzulegen, was es wohl heißen könnte, daß Geist und Körper als verschiedene Substanzen auseinanderzuhalten sind. Darüber, daß das Ergebnis so hoffnungslos abwegig erscheint, trösten wir uns dann mit Spekulationen über die Motive des ursprünglichen Verfechters der These: Descartes war eben noch religiösen oder kirchlichen Seelenvorstellungen verhaftet, er wollte die Seele dem Zugriff der Naturwissenschaften entziehen und dergleichen.

Unparteiische Betrachter, die ihr hermeneutisches Taktgefühl bewahrt haben, billigen solche Diagnosen nicht. Sie rechnen damit, daß ihre Assoziationen zu einem Wort wie «Substanz» herzlich irrelevant sein können für Descartes’ Verständnis dieses Wortes; und sie suchen Daten, die einer Entschlüsselung des zunächst nicht offensichtlichen Verständnisses dienen könnten. Im folgenden werde ich genau sechs solcher Daten nennen und, soweit nötig, knapp kommentieren:

1. Wenn Descartes Körper und Seele einer Person zwei Substanzen zurechnete, so widersprach er damit der Doktrin des traditionellen Aristotelismus, wonach jede Person eine einzige individuelle Substanz ist, als deren Materie ihr Körper und als deren Form ihre Seele zu begreifen ist.

2. Um dem Vorwurf zu begegnen, Körper und Seele einer Person seien wegen der Zweiheit der Substanzen, auf die man sie zu beziehen habe, nur zufälligerweise miteinander verbunden, erklärte Descartes, sie seien aber ungeachtet ihres realen Unterschiedes sehr eng, ja, aufs engste miteinander verbunden, so eng, daß selbst Gott sie nicht noch enger verbinden könnte, folglich so eng, daß man von einer «substantiellen Einheit» zwischen ihnen sprechen könne, die zu begreifen unserem gewöhnlichen Selbstverständnis nach ohnehin das Nächstliegende sei, während es eines besonders geübten Blickes bedürfe, um sich von dem gleichwohl bestehenden realen Unterschied zu überzeugen.

3. Einen einzelnen menschlichen wie überhaupt einen beliebigen einzelnen Körper hielt Descartes nicht für eine Substanz. Er meinte vielmehr, der Art und der Zahl nach gebe es nur eine einzige körperliche Substanz, die (geschaffene) Ausdehnung insgesamt genommen: Einzelne Körper würden zwar höflichkeitshalber als Substanzen angesprochen, sensu stricto seien sie aber nichts anderes als partikulare Modifikationen, sogenannte Modi, einer einzigen ausgedehnten Substanz. – Das ist keine Marginalie, sondern ein zentraler (um nicht zu sagen: substantieller) Teil der Cartesischen Lehre mit erheblichen Konsequenzen: Der Begriff der Substanz wird so entbehrlich in der Beschreibung und Erklärung der körperlichen Natur. Diese Natur erscheint nicht länger als eine in allerlei Gattungen und Arten nach ihren substantiellen Formen gegliederte Ordnung verschiedener Substanzen, sondern es herrscht das in mathematischer Sprache zu erfassende einfache, darum klar und deutlich zu erfassende Verhältnis zwischen der einen Ausdehnung und ihren zahllosen Modifikationen, den partikular begrenzten Ausdehnungen, die vor allem eines auszeichnet: In jeder von ihnen ist als Wesen oder Attribut dasselbe zu finden – Ausdehnung. (Nebenbei bemerkt: Die Kirche zürnte Descartes nicht, weil er «Cogito, ergo sum» gesagt hatte, sondern weil nach seiner Konzeption die Wandlung bei der Eucharistie nicht länger als ein Wandel der Substanz bei gleichbleibenden Akzidenzen beschreibbar war, denn nach seiner Lehre war der Leib des Herrn auch substantiell dasselbe wie das Brot, nämlich eine Portion Ausdehnung.)

4. Ist meine Seele, das denkende Ding, das ich bin, nach Cartesischer Lehre auch nur ein Modus, eine partikulare Portion Denken, so wie mein Körper nur ein Modus, eine partikulare Portion Ausdehnung ist? Gesagt hat Descartes etwas anderes, allerdings, soweit ich weiß, nur an einer einzigen Stelle: Nein, meine Seele sei eine reine Substanz und deshalb (anders als mein Körper) inkorruptibel. Eine Theorie darüber, wie eine Seele sich als ein immaterielles Individuum allein durch ihr Denken in der Zeit fortdauernd erhält, hat Descartes nicht entwickelt. Im besonderen sucht man Erklärungen, die auf «das Bewußtsein» rekurrieren, bei ihm vergeblich. Das ändert sich bei Post-Cartesianern wie Locke, der es mit dem Bewußtsein ohne Substantialität versuchte, oder wie Leibniz und Wolff, die es mit einer als Bewußtsein verstandenen Substantialität versuchten. Der Cartesianer Spinoza tat das Nächstliegende: Er erklärte die einzelne menschliche Seele zu einem ebensolchen Modus des einen Denkens, wie der menschliche Körper ein Modus der einen Ausdehnung sei.

5. Traditionelles Paradigma für eine Substanz war der lebendige mit Materie und Form (bzw. Körper und Seele) versehene Organismus einer Pflanze, eines Tieres. Descartes verwarf dieses Paradigma, insbesondere verwarf er den Gedanken der Seele (bzw. Form) als einen den Körper wesentlich ergänzenden Träger der Lebendigkeit. Er zog es vor, den Unterschied zwischen einem lebendigen und einem toten Organismus als rein mechanisch begreifbaren Unterschied zwischen zwei attributiv gleichen Portionen von Ausdehnung anzusehen – in Analogie zum Unterschied zwischen einem funktionierenden und einem defekten Uhrwerk. War in der Tradition die gegebene Vielfalt unterscheidbarer Lebensformen der wichtigste Anhaltspunkt für die Unterscheidung verschiedener Substanzen, so brauchte er etwas anderes. Er operierte mit einem logisch-begrifflichen Kriterium des realen (also substantiellen) Unterschiedes: Zwei Begriffe A und B sind genau dann Begriffe von etwas, das derselben Substanz zuzurechnen ist, wenn es einen Begriff C derart gibt, daß sowohl A als auch B den Begriff C involvieren. Die Involvenz ist dabei eine logische Relation zwischen Begriffen mit allen Eigenschaften einer (nicht-linearen) Ordnungsrelation, und aus dem gegebenen Kriterium folgt, daß die in der Ordnung maximalen Begriffe und nur sie angeben, welcher Substanz zuzurechnen ist, was unter einen gegebenen Begriff fällt. Das weist seinem ganzen Zuschnitt nach in eine andere Richtung als der traditionelle Substanzbegriff, der an Individuen und ihren infimae species (auf Begriffe bezogen also an minimal generischen Begriffen) ausgerichtet war. Denn man sieht sofort, daß nach dem Cartesischen Kritierium nur maximal generische Begriffe ausgezeichnet sind.

6. Descartes war der Überzeugung, daß eine ordentliche Analyse unserer Begriffe auf ein System führe, deren deskriptiv gehaltvolle Begriffe so geordnet sind, daß es genau zwei Maxima aufweise, den Begriff der Ausdehnung und den des Denkens. Das ist eine kühne These, die zu verteidigen hier nicht der Ort ist. Aber verteidigen lassen sich sehr wohl zwei Implikationen dieser These, die im Hinblick auf den Cartesischen Dualismus von Bedeutung sind: (1) Die Begriffe des Denkens und der Ausdehnung involvieren einander nicht. (2) Es gibt keinen deskriptiv gehaltvollen Begriff X derart, daß sowohl der Begriff des Denkens als auch der Begriff der Ausdehnung diesen Begriff X involvieren. Setzen wir an die Stelle der Ausdehnung das Physische und an die Stelle des Denkens das Mentale, dann bekommen wir die beiden folgenden Thesen: (1) Kein Begriff mentaler Zustände ist reformulierbar als Begriff physikalischer Zustände. (2) Es gibt keinen Begriff von neutralen Zuständen derart, daß sich Begriffe von mentalen und Begriffe von physikalischen Zuständen reformulieren ließen als Spezifikationen solcher neutralen Begriffe.

Diese beiden Thesen für sich genommen artikulieren aus unserem Blickwinkel betrachtet die begriffliche Irreduzibilität des Mentalen, also höchstens einen konzeptuellen Dualismus, wie ihn nicht wenige unserer Zeitgenossen unterschreiben. Hier hättn wir also einen Anhaltspunkt für etwas unverfälscht Modernes bei Descartes, und das in unmittelbarer Nachbarschaft des heute am meisten als obsolet verschrieenen Theorems, das ihm zugerechnet werden kann, der Zwei-Substanzen-Lehre.

Als tentative Materialisten, die wir sind, vertrauen wir darauf, daß aus einem bloß konzeptuellen psycho-physischen Dualismus ontologisch nichts folgt, schon gar nicht ein ontologischer psycho-physischer Dualismus. Nehmen wir also an, ein konzeptuellen Dualismus ließe sich konsistent mit einem ontologischen Monismus der materialistischen Art kombinieren. Dann liegt es nahe zu sagen, Descartes habe einen großen Fehler gemacht, als er die konzeptuelle Verschiedenheit von Denken und Ausdehnung vermittels seines Substantialitätskriteriums zur ontologischen Verschiedenheit, zum «realen Unterschied» aufgeblasen hat. Und die Suche nach dem fehlerhaften Schluß beginnt. (Sie begann übrigens schon zu Descartes’ Lebzeiten!)

Man kann indes auch anders diagnostizieren. Dazu muß man nur die scheinbar selbstverständliche Vorstellung aufgeben, Descartes habe seine für sich genommen plausible Irreduzibilitätsthese nur deshalb um das Substantialitätskriterium ergänzt, weil er unbedingt auf seinen Substanzendualismus hinaus wollte. Das hält man für selbstverständlich, weil man das Motiv einleuchtend findet, die mentale Seite unserer Existenz durch Substantialisierung vor dem Zugriff des Physikalismus zu retten. Doch gerade dieses Motiv lag Descartes ganz fern. Ihn beschäftigte umgekehrt viel mehr, wie die Materie vor der Applikation eines mentalistisch kontaminierten Begriffsapparates zu bewahren ist. Nicht so sehr die Titulatur der Seele als Substanz machte seinerzeit Skandal, sondern die Erhebung der Materie zu einer Substanz. Sieht man aber das Substantialitätskriterium als eine eigene Thesis an, losgelöst von ihrer fatalen Wirkung im Kontext des konzeptuellen Dualismus, stößt man auf noch etwas Modernes: Den Substanzbegriff mit einem logisch-begrifflichen Kriterium marginalisieren und so aus der Physik hinauskomplimentieren zu wollen, dahinter steht nämlich (zumindest auch) ein modernes Motiv.

Nichtsdestoweniger ist und bleibt es obsolet ist, daß ich in meinem tiefsten Innern eine immaterielle Substanz sein soll. Das ist eine These, die wir im besten Fall überhaupt nicht verstehen. Was man durch die Nähe dieses sinistren Anspruchs zu den genannten modernen Motiven gewahr wird, ist jedoch folgendes: In der ebenso glatt wie absurd erscheinenden Fassade der Cartesischen Lehre von den zwei Substanzen gibt es Risse, zumindest diesen einen, der daran zu erkennen ist, daß die Rede von materiellen Substanzen offen als eine façon de parler dafür ausgewiesen wird, daß der Begriff der Ausdehnung maximal generisch ist, während für die Rede von denkenden Substanzen das Entsprechende nicht der Fall sein soll.

Bin ich damit aber nicht im Begriffe, Descartes genau das anzutun, was ich bei anderen vorhin gerügt habe, ihm nämlich Inkonsistenz, zumindest Inkonsequenz anzusinnen? So ist es. Es gibt nur den kleinen, aber nicht geringfügigen Unterschied, daß ich, was diesen Riß in der Cartesischen Substanzkonzeption angeht, die Gewährsleute nicht unter meinen, sondern unter Descartes’ Zeitgenossen finde. Einer heißt Spinoza. So kommt man gerade auf der Suche nach der Modernität eines Alten wieder aufs historische Detail. Aber alles andere ist ja auch Gerede.

 

 


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