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Wie die Ilse aussieht und wie die Ilse früher gewesen ist






 

 

Ich glaube, ich habe die Geschichte nicht richtig angefan­gen. Wenn ich ü ber die Ilse schreiben will, muss ich zuerst beschreiben, wie die Ilse aussieht. Denn das ist wichtig. Die Ilse ist schö n. Es gibt nichts an ihr, was nicht schö n ist! Sie hat sehr viele, sehr dunkelbraune Haare, die ganz glatt sind und bis zu den Schultern reichen. Sie hat noch nie einen Pickel gehabt. Ihre Augen sind grau mit grü nen Flecken. Ihre Nase ist ganz klein. Obwohl sie sehr dü nn ist, hat sie einen ziemlich groß en, spitzen Busen. Um die Taille misst sie nur sechsundvierzig Zentimeter und ihr Zeichen­lehrer hat ausgerechnet, dass sie genau nach dem goldenen griechischen Schnitt gebaut ist.

 

Ich kö nnte noch seitenlang ü ber das schö ne Aussehen meiner Schwester schreiben. Und trotzdem wü rde das Wichtigste fehlen. Es ist so: Die Ilse hat etwas, was die anderen nicht haben! Das ist mir schon oft aufgefallen. Wenn ich in der Pause in ihre Klasse komme, stehen und hocken und gehen in der Klasse dreiß ig Mä dchen herum. Hü bsche und normale und hä ssliche Mä dchen. Und dann ist da noch die Ilse. Und die ist eben anders. Meine Schwes­ter ist wie von einem Plakat. Natü rlich nicht wie von einem Waschpulver- Plakat. Von so einem „ Zeitgeist „- Plakat kommt sie. Von einem „Schnelle- Autos –fü r –junge –Leute " - Plakat. Ein Coca-Cola-Martini-Jetset-Mä dchen ist sie. Von auß en natü r­lich nur.

 

Frü her war die Ilse nicht so schö n. Als wir noch bei der Oma gewohnt haben, haben alle Leute zur Ilse immer gesagt: „Warum schaust denn so bö se drein? "

Der Hausmeister im Haus von der Oma hat immer zur Ilse gesagt:

„Wennst einmal lachen tä test, wä rst direkt ein hü bsches Kind! "

Aber die Ilse hat damals fast nie gelacht. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Ich erinnere mich daran, dass sie immer Buchstaben malte. Sie saß an dem kleinen Tisch mit den Plastikrosen und schrieb seitenlang Buchstaben. Der Opa schimpfte und sagte, sie werde sich noch die Augen verderben.

Sie war damals in der zweiten Klasse. In einer neuen Schule. Weil die Oma ja sehr weit weg von unserer alten Wohnung wohnt. In der neuen Schule wollte die Lehrerin andere Buchstaben. Darum malte die Ilse so viele Buchsta­ben. Aber es nü tzte nichts. Zwei Jahre spä ter zogen wir ja zum Kurt. Da kam dann die Ilse wieder in eine andere Schule, zu einer anderen Lehrerin, und die wollte wieder andere Buchstaben. Vielleicht hat die Ilse deshalb eine Schrift wie aus einem Schö nschreibeheft bekommen, ganz gerade und gleichmä ß ig.

„Ihre Hefte sind eine helle Freude", sagte die Klassenlehre­rin an jedem Sprechtag zu unserer Mama.

 

Doch in letzter Zeit dü rften die Hefte der Ilse fü r die Lehrer keine Freude mehr gewesen sein. Gestern habe ich nä mlich ihren Schreibtisch aufgerä umt. Nicht weil ich Ordnung machen wollte. Ich wollte Sachen von der Ilse in der Hand haben. Sachen sind oft besser als gar nichts. Ich habe also den Schreibtisch aufgerä umt und in ihre Schulhefte geschaut. In jedem Heft war hö chstens eine Seite voll geschrieben. Die Mathe-Hefte und die Latein-Hef­te waren ganz leer.

 

Ich verstehe das nicht! Sie ist doch stundenlang an ihrem Schreibtisch gesessen. Oft noch am Abend. Und wenn ich mit ihr reden wollte, hat sie gesagt: „Halt den Mund, du stö rst mich beim Lernen! " Vier kleine und drei groß e Notizhefte habe ich gefunden. Sie waren mit Strichen und Wellenlinien und kleinen Mä nnchen voll gekritzelt. Auf dem Tisch, unter der Schreibunterlage, war ein Zettel. WOLFGANG ICH SEHNE MICH NACH DIR! WEISST DU DAS DENN NICHT? hat auf dem Zettel gestanden. Der Zettel war uralt. Mindestens zwei Jahre alt. Das weiß ich, weil er mit grü ner Tinte geschrieben war. Die verwendet die Ilse schon lange nicht mehr.

 

Als ich das mit dem Wolfgang und dem SEHNEN las, bekam ich ein komisches Gefü hl im Bauch. SEHNEN ist so ein merkwü rdiges Wort. Ich wollte nicht, dass sich meine Schwester SEHNEN muss. Ich weiß nicht, welchen Wolf­gang sie damals gemeint hat. Es gibt so viele Wolfgangs. Acht Stü ck kä men leicht in Frage. Und ich war auf alle acht Wolfgangs bö se, weil sich meine Schwester nach einem von ihnen hat sehnen mü ssen. Und ich war auch traurig, weil ich von der Sehnsucht nichts gewusst habe.

 

Ich versuchte, mich zu erinnern, wie das vor zwei Jahren gewesen war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Ilse damals fü r einen Wolfgang Zeit gehabt hä tte. Jeden Don­nerstag waren wir bei der Oma und beim Opa. Jeden Samstag mussten wir den Papa treffen. Am Mittwoch war immer der Pflichtbesuch bei den Eltern der Mama fä llig. (Damals war sie noch nicht bö se mit denen.) Am Montag­nachmittag mussten wir zu Hause sein, da sind der Groß ­vater und die Groß mutter, die Eltern vom Kurt, gekommen. Und am Sonntag war der Familientag. Da mussten wir einen Ausflug mit der Mama, dem Kurt, der Tatjana und dem Oliver machen. Und vor zwei Jahren musste die Ilse abends doch um sieben Uhr daheim sein. Wenn sie zehn Minuten spä ter gekommen ist, hat die Mama einen Anfall gekriegt. Fü r einen Wolfgang kann da also nicht viel Zeit ü brig gewesen sein. Fü rs SEHNEN natü rlich schon.

 


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