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London, 14. Mai 1602 4 ñòðàíèöà






Xemerius hatte recht: Sie waren alle Freaks.

Blö d war nur, dass ich trotzdem zu Gideon hinü berblicken musste und so etwas Hirnverbranntes dachte wie Wenn er jetzt nur einmal lä chelt, verzeihe ich ihm alles.

Tat er natü rlich nicht. Stattdessen sah er mich nur ausdruckslos an, unmö glich zu sagen, was in seinem Kopf vor sich ging. Fü r einen Moment lang war die Vorstellung, dass wir uns gekü sst hatten, sehr weit weg und aus irgendeinem Grund musste ich plö tzlich an diese albernen Reime denken, die Cynthia Dale, unser Klassenliebesorakel, immer zum Besten gab:»Grü ne Augen, Froschnatur, von der Liebe keine Spur...«»Gute Nacht«, sagte ich wü rdevoll.

»Gute Nacht«, murmelten alle. Das heiß t, alle auß er Gideon. Er sagte:»Vergessen Sie nicht, ihr die Augen zu verbinden, Mr Whitman.«

Mr George schnaubte verä rgert durch die Nase. Wä hrend Mr Whitmann die Tü r ö ffnete und mich hinaus in den Flur schob, hö rte ich Mr George sagen:»Habt ihr schon mal daran gedacht, dass genau dieses ausgrenzende Verhalten der Grund dafü r sein kö nnte, dass die Dinge, die geschehen werden, ü berhaupt geschehen? «Ob jemand eine Antwort darauf gab, konnte ich nicht mehr hö ren. Die schwere Tü r glitt ins Schloss und schnitt sä mtliche Stimmen ab.

Xemerius kratzte sich mit seiner Schwanzspitze am Kopf.»Das ist echt der krasseste Verein, der mir jemals untergekommen ist! «

»Nimm dir das bloß nicht zu Herzen, Gwendolyn«, sagte Mr Whitman. Er nahm einen schwarzen Schal aus seinem Jackett und hielt ihn mir unter die Nase.»Du bist eben die Neue in diesem Spiel. Die groß e Unbekannte in der Gleichung.«

Was sollte ich dann erst sagen? Fü r mich war das alles neu! Vor drei Tagen hatte ich nichts von der Existenz der Wä chter gewusst. Vor drei Tagen war mein Leben noch vollkommen normal gewesen. Na ja, jedenfalls im Groß en und Ganzen.»Mr Whitman, bevor Sie mir die Augen verbinden... kö nnten wir bitte in Madame Rossinis Atelier vorbeigehen und meine Sachen holen? Ich habe mittlerweile schon zwei Garnituren der Schuluniform hier liegen gelassen und ich brauche etwas zum Anziehen fü r morgen. Auß erdem ist auch meine Schultasche da.«

»Selbstverstä ndlich.«Beim Gehen wirbelte Mr Whitman den Schal gut gelaunt durch die Luft.»Du kannst dich auch ruhig schon umziehen, du wirst bei deiner Zeitreise gleich niemandem begegnen. In welches Jahr sollen wir dich denn zurü ckschicken? «

»Das spielt doch ohnehin keine Rolle, wenn ich in einem Kellerraum eingesperrt bin«, sagte ich.

»Nun ja, es muss ein Jahr sein, in dem du problemlos im... ä h, in besagtem Kellerraum landen kannst, am besten, ohne jemandem zu begegnen. Ab 1945 dü rfte das kein Problem sein - vorher wurden die Rä umlichkeiten als Luftschutzkeller genutzt. Wie wä re es mit 1974? Das ist das Jahr, in dem ich geboren wurde, ein gutes Jahr.«Er lachte.»Oder wir nehmen den 30. Juli 1966. Da hat England das WM-Finale gegen Deutschland gewonnen. Aber Fuß ball interessiert dich nicht wirklich, oder? «

»Vor allem nicht, wenn ich in einem fensterlosen Kellerloch zwanzig Meter unter der Erde sitze«, sagte ich mü de.

»Es ist doch alles nur zu deinem Schutz.«Mr Whitman seufzte.

»Moment, Moment«, sagte Xemerius, der neben mir herflatterte.»Ich komme schon wieder nicht ganz mit. Heiß t das, du wirst jetzt in eine Zeitmaschine steigen und in die Vergangenheit reisen? «»Ja, genau«, antwortete ich.

»Dann nehmen wir doch das Jahr 1948«, sagte Mr Whitman erfreut.»Olympische Sommerspiele in London.«

Weil er vorausging, konnte er nicht sehen, dass ich die Augen verdrehte.

»Zeitreisen! Tssss. Da habe ich mir ja eine feine Freundin angelacht! «, sagte Xemerius und zum ersten Mal meinte ich, etwas wie Respekt in seiner Stimme zu hö ren.

 

Der Raum, in dem der Chronograf stand, befand sich tief unter der Erde, und obwohl man mich bisher immer nur mit verbundenen Augen hierhergebracht und wieder weggefü hrt hatte, bildete ich mir ein, in etwa zu wissen, wo er lag. Schon deshalb, weil ich den Raum sowohl im Jahr 1912 als auch im Jahr 1782 glü cklicherweise ohne Augenbinde hatte verlassen dü rfen. Als Mr Whitman mich von Madame Rossinis Nä hzimmer aus die Gä nge und Treppen entlangfü hrte, kam mir der Weg schon richtig vertraut vor, nur auf dem letzten Stü ck hatte ich das Gefü hl, Mr Whitman ginge noch einmal eine Extraschleife, um mich zu verwirren.

»Der macht es aber spannend«, sagte Xemerius.»Warum haben sie diese Zeitmaschine denn im finstersten Kellerverlies versteckt? «

Ich hö rte Mr Whitman mit jemandem sprechen, dann wurde eine schwere Tü r geö ffnet und fiel wieder ins Schloss und Mr Whitman nahm mir den Schal ab.

Ich blinzelte ins Licht. Neben Mr Whitman stand ein junger rothaariger Mann im schwarzen Anzug, der ein wenig nervö s dreinschaute und vor Aufregung schwitzte. Ich sah mich nach Xemerius um, der zum Spaß seinen Kopf durch die verschlossene Tü r steckte, wä hrend der Rest von ihm im Raum blieb.

»Das sind die dicksten Wä nde, die ich jemals gesehen habe«, sagte er, als er wieder auftauchte.»Die sind so dick, da kö nnten sie einen Elefantenbullen eingemauert haben, und zwar quer, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Gwendolyn, das ist Mr Marley, Adept ersten Grades«, sagte Mr Whitman.»Er wird hier auf dich warten, wenn du zurü ckkommst, und dich wieder nach oben geleiten. Mr Marley, das ist Gwendolyn Shepherd, der Rubin.«

»Es ist mir eine Ehre, Miss.«Der Rothaarige machte eine kleine Verbeugung.

Ich lä chelte ihn verlegen an.»Ä hm, ja, freut mich auch.«

Mr Whitman machte sich an einem hochmodernen Safe mit blinkendem Display zu schaffen, der mir bei den beiden letzten Besuchen in diesem Raum entgangen war. Er war hinter einem Wandbehang verborgen, auf den mittelalterlich anmutende Mä rchenszenen gestickt waren. Ritter mit Pferden und Bü scheln an den Helmen sowie Burgfrä uleins mit spitzen Hü ten und Schleiern bewunderten offensichtlich einen halb nackten Jü ngling, der einen Drachen erlegt hatte. Wä hrend Mr Whitman die Zahlenfolge eingab, schaute der rothaarige Mr Marley diskret auf den Boden, aber man konnte ohnehin nichts erkennen, da Mr Whitman das Display mit seinem breiten Rü cken vor unseren Blicken verbarg. Die Tü r des Safes glitt mit sanftem Schwung auf und Mr Whitman konnte den Chronografen, eingeschlagen in rotes Samttuch, herausnehmen und auf den Tisch stellen.

Mr Marley hielt ü berrascht die Luft an.

»Mr Marley sieht heute zum ersten Mal, wie der Chronograf benutzt wird«, sagte Mr Whitman und zwinkerte mir zu. Mit dem Kinn deutete er auf eine Taschenlampe, die auf dem Tisch lag.»Nimm sie, nur fü r den Fall, dass das elektrische Licht Probleme bereitet. Damit du dich nicht im Dunklen fü rchten musst.«

»Danke.«Ich ü berlegte, ob ich vielleicht auch ein Insektenspray einfordern sollte, so ein alter Keller war sicher voller Spinnen - und Ratten? Es war nicht fair, mich ganz allein dorthin zu schicken.»Kö nnte ich bitte auch einen Knü ppel bekommen? «

»Einen Knü ppel? Gwendolyn, du wirst dort niemandem begegnen.«

»Aber vielleicht gibt es dort Ratten...«

»Ratten haben mehr Angst vor dir als umgekehrt, glaub mir.«Mr Whitman hatte den Chronografen aus seinem Samttuch geschä lt.»Beeindruckend, nicht wahr, Mr Marley? «

»Ja, Sir, sehr beeindruckend, Sir.«Mr Marley bestaunte den Apparat ehrfü rchtig.

»Schleimer! «, sagte Xemerius.»Die Rothaarigen sind immer Schleimer, findest du nicht auch? «

»Ich hatte ihn mir grö ß er vorgestellt«, sagte ich.»Und ich hä tte nicht gedacht, dass eine Zeitmaschine so viel Ä hnlichkeit mit einer Kaminuhr hat.«

Xemerius pfiff durch seine Zä hne.»Das sind aber ganz schö n dicke Klunkerchen - wenn die echt sind, wü rde ich das Ding auch in einen Safe schließ en.«Tatsä chlich war der Chronograf mit zugegeben beeindruckend groß en Edelsteinen besetzt, die zwischen den bemalten und beschriebenen Flä chen der seltsamen Apparatur glitzerten wie die Kronjuwelen.

»Gwendolyn hat sich das Jahr 1948 ausgesucht«, sagte Mr Whitman, wä hrend er Klappen ö ffnete und winzig kleine Zahnrä dchen in Bewegung setzte.»Was fand da in London statt, Mr Marley, wissen Sie das? «

»Die Olympischen Sommerspiele, Sir«, sagte Mr Marley.

»Streber«, sagte Xemerius.»Die Rothaarigen sind immer Streber.«

»Sehr gut.«Mr Whitman richtete sich auf.»Gwendolyn wird am 12. August um zwö lf Uhr mittags landen und exakt hundertzwanzig Minuten dort verweilen. Bist du bereit, Gwendolyn? «

Ich schluckte.»Ich wü rde gern noch wissen... sind Sie sicher, dass ich dort niemandem begegnen werde? «Von Ratten und Spinnen mal abgesehen.»Mr George hat mir seinen Ring mitgegeben, damit mir niemand was tut...«

»Das letzte Mal bist du in den Dokumentenraum gesprungen, der zu allen Zeiten ein hä ufig genutzter Raum war. Dieses Zimmer hier steht aber leer. Wenn du dich ruhig verhä ltst und den Raum nicht verlä sst - er wird ohnehin abgeschlossen sein -, wirst du ganz sicher niemandem begegnen. In den Nachkriegsjahren wurde dieser Teil der Gewö lbe nur selten betreten, man war ü berall in London mit oberirdischen Bauarbeiten beschä ftigt.«Mr Whitman seufzte.»Eine spannende Zeit...«

»Aber wenn doch zufä llig jemand genau in dieser Zeit den Raum betritt und mich dort sieht? Ich sollte wenigstens die Parole fü r den Tag kennen.«

Mr Whitman hob leicht verä rgert seine Augenbrauen.»Niemand wird hereinkommen, Gwendolyn. Noch einmal: Du wirst in einem verschlossenen Raum landen, hundertzwanzig Minuten dort ausharren und wieder zurü ckspringen, ohne dass irgendjemand im Jahr 1948 etwas davon mitbekommt. Wenn doch, stü nde etwas ü ber deinen Besuch in den Annalen verzeichnet. Auß erdem haben wir jetzt nicht die Zeit, um nachzusehen, wie die Parole fü r diesen Tag lautete.«

»Dabei sein ist alles«, sagte Mr Marley schü chtern.

»Wie bitte? «

»Die Parole wä hrend der Olympiade lautete: Dabei sein ist alles.«Mr Marley guckte verlegen auf den Boden.»Das hatte ich mir gemerkt, sonst sind sie nä mlich immer auf Latein.«

Xemerius verdrehte die Augen und Mr Whitman sah aus, als wü rde er gern das Gleiche tun.»Aha? Nun ja, Gwendolyn, da hö rst du es. Nicht dass du es brauchen wü rdest, aber wenn du dich damit besser fü hlst... Kommst du jetzt bitte? «

Ich trat vor den Chronografen und reichte Mr Whitman meine Hand. Xemerius flatterte neben mir zu Boden.

»Und jetzt? «, fragte er aufgeregt.

Jetzt kam der unangenehme Teil. Mr Whitman hatte eine Klappe am Chronografen geö ffnet und legte meinen Zeigefinger in die Ö ffnung.

»Ich glaube, ich halte mich einfach an dir fest«, sagte Xemerius und klammerte sich wie ein Ä ffchen von hinten um meinen Hals. Ich hä tte nichts davon spü ren dü rfen, aber tatsä chlich fü hlte es sich an, als legte mir jemand einen nassen Schal um.

Mr Marleys Augen waren vor Spannung weit aufgerissen.

»Danke fü r die Parole«, sagte ich zu ihm und verzog das Gesicht, als eine spitze Nadel sich tief in meinen Finger bohrte und der Raum sich mit rotem Licht fü llte. Ich umklammerte den Griff der Taschenlampe fest, die Farben und Menschen verwirbelten vor meinen Augen, ein Ruck ging durch meinen Kö rper.

 

Aus den Inquisitionsprotokollen des Dominikanerpaters Gian Petro Baribi Archive der Universitä tsbibliothek Padua (entschlü sselt, ü bersetzt und bearbeitet von Dr. M. Giordano)

23. Juni 1542. Florenz.

Vom Leiter der Kongregation mit einem Fall betraut, der ä uß erste Diskretion und Fingerspitzengefü hl verlangt und an Kuriositä t nicht zu ü berbieten ist. Elisabetta, die jü ngste Tochter von M., die seit zehn Jahren streng abgeschirmt hinter Klostermauern lebt, trä gt angeblich einen Sukkubus in sich, der von einer Buhlschaft mit dem Teufel zeugt. Tatsä chlich konnte ich mich bei meinem Besuch von einer mö glichen Schwangerschaft des Mä dchens ü berzeugen, ebenso wie von einem leicht verwirrten Geisteszustand. Wä hrend die Ä btissin, die mein volles Vertrauen genieß t und eine Frau von gesundem Menschenverstand zu sein scheint, eine natü rliche Erklä rung fü r das Phä nomen nicht ausschließ t, kommt der Verdacht der Hexerei ausgerechnet vom Vater des Mä dchens.. Mit eigenen Augen will er gesehen haben, wie der Teufel in Gestalt eines jungen Mannes das Mä dchen im Garten umarmt und sich dann in einer Rauchwolke' entmaterialisiert hat und einen leichten Schwefelgeruch hinterließ. Zwei weitere Klosterschü lerinnen sollen bezeugen, dass sie den Teufel mehrfach in Gesellschaft von Elisabetta gesehen haben und dass er ihr Geschenke in Form von kostbaren Edelsteinen gemacht habe. So unwahrscheinlich die Geschichte auch klingen mag: Angesichts der engen Bindung von M. zu R. M. und diversen Freunden im Vatikan fä llt es mir schwer, offiziell seinen Verstand anzuzweifeln und seine Tochter lediglich der Unzucht zu bezichtigen. Ab morgen werde ich daher Verhö re mit allen Betroffenen fü hren.

 

 


Xemerius? «Das nasse Gefü hl um meinen Hals war verschwunden. Rasch knipste ich die Taschenlampe an. Aber der Raum, in dem ich gelandet war, war bereits erleuchtet, von einer schwachen Glü hbirne, die von der Decke baumelte.»Hallo«, sagte jemand.

Ich fuhr herum. Der Raum war mit allerlei Kisten und Mö beln gefü llt und an der Wand neben der Tü r lehnte ein blasser junger Mann.

»Ddd... dabei sein ist alles«, stotterte ich.

»Gwendolyn Shepherd? «, stotterte er zurü ck.

Ich nickte.»Woher wissen Sie das? «

Der junge Mann nahm ein zerknittertes Blatt Papier aus seiner Hosentasche und hielt es mir hin. Er sah genauso aufgeregt aus, wie ich mich fü hlte. Er trug Hosenträ ger und eine runde kleine Brille, sein blondes Haar war mit einem Seitenscheitel und viel Pomade nach hinten gekä mmt. Er hä tte gut in einem alten Gangsterfilm mitspielen kö nnen, als der altkluge, aber harmlose Assistent des kettenrauchenden abgebrü hten Kommissars, der sich in das Gangsterliebchen mit den vielen Federboas verliebt und am Ende immer erschossen wird.

Ich beruhigte mich ein bisschen und sah mich kurz um. Sonst war niemand im Raum, auch von Xemerius war keine Spur zu entdecken. Offensichtlich konnte er zwar durch Wä nde gehen, aber nicht in der Zeit reisen.

Zö gernd nahm ich das Blatt entgegen. Es war vergilbt, ein kariertes Ringbuchblatt, das schlampig aus der Perforation gerissen war. Darauf stand, ziemlich krakelig, in verblü ffend vertrauter Schrift:

 

Fü r Lord Montrose – wichtig!!!

12. August 1948, 12 Uhr Mittag. Alchemielabor. Bitte kommt allein.

Gwendolyn Shepherd

 

Sofort begann mein Herz wieder schneller zu klopfen. Lord Lucas Montrose war mein Groß vater! Er war gestorben, als ich zehn Jahre alt gewesen war. Besorgt betrachtete ich die geschwungene Linie der L. Leider gab es keinen Zweifel: Die Krakelschrift sah meiner eigenen Handschrift zum Verwechseln ä hnlich. Aber wie konnte das sein?

Ich schaute zu dem jungen Mann hoch.»Woher haben Sie das? Und wer sind Sie? «

»Hast du das geschrieben? «

»Kö nnte sein«, sagte ich und meine Gedanken begannen fieberhaft, sich im Kreis zu drehen. Wenn ich es geschrieben hatte, warum konnte ich mich dann nicht daran erinnern?»Woher haben Sie es? «

»Ich habe das Blatt seit fü nf Jahren. Jemand hat es zusammen mit einem Brief in meine Manteltasche gelegt. An dem Tag, an dem die Zeremonie fü r den zweiten Grad stattgefunden hat. In dem Brief stand: Wer Geheimnisse bewahrt, sollte auch das Geheimnis hinter dem Geheimnis kennen. Beweise, dass du nicht nur schweigen kannst, sondern auch denken. Keine Unterschrift. Es war eine andere Handschrift als die auf dem Zettel, eine - ä hm - eher elegante, bisschen altmodische.«

Ich nagte an meiner Unterlippe.»Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht. Ich habe all die Jahre geglaubt, es sei eine Art Prü fung«, sagte der junge Mann.»Ein weiterer Test, sozusagen. Ich habe niemandem davon erzä hlt, ich habe immer darauf gewartet, dass mich jemand darauf anspricht oder dass weitere Hinweise eintreffen. Aber es ist nie etwas passiert. Und heute habe ich mich hier heruntergeschlichen und gewartet. Eigentlich habe ich nicht mehr damit gerechnet, dass ü berhaupt etwas passiert. Aber dann hast du dich aus dem Nichts vor mir materialisiert. Um punkt zwö lf Uhr. Warum hast du mir diesen Brief geschrieben? Warum treffen wir uns in diesem abgelegenen Keller? Und aus welchem Jahr kommst du? «

»2011«, sagte ich.»Tut mir leid, auf die anderen Fragen weiß ich leider auch keine Antwort.«Ich rä usperte mich.»Wer sind Sie? «

»Oh, entschuldige bitte. Mein Name ist Lucas Montrose. Ohne Lord. Ich bin Adept zweiten Grades.«

Mein Mund war plö tzlich ganz trocken.»Lucas Montrose. Bourdonplace Nummer 81.«

Der junge Mann nickte.»Da wohnen meine Eltern, ja.«

»Dann...«Ich starrte ihn an und holte tief Luft:»Dann sind Sie mein Groß vater.«

»Oh, nicht schon wieder«, sagte der junge Mann und seufzte sehr tief. Dann gab er sich einen Ruck, lö ste sich von der Wand, staubte einen der Stü hle ab, die in einer Ecke des Raumes verkehrt herum ü bereinandergestapelt waren, und stellte ihn vor mich hin.»Sollen wir uns nicht lieber setzen? Meine Beine fü hlen sich an wie aus Gummi.«

»Meine auch«, gab ich zu und ließ mich auf das Polster sinken. Lucas nahm sich einen weiteren Stuhl und setzte sich mir gegenü ber.

»Du bist also meine Enkelin? «Er grinste schwach.»Weiß t du, das ist eine komische Vorstellung fü r mich. Ich bin nicht mal verheiratet. Genau genommen nicht mal verlobt.«

»Wie alt bist du denn? Oh, entschuldige, das mü sste ich wissen, du bist Jahrgang 1924, also bist du im Jahr 1948 vierundzwanzig Jahre alt.«

»Ja«, sagte er.»In drei Monaten werde ich vierundzwanzig. Und wie alt bist du? «

»Sechzehn.«

»Genau wie Lucy.«

Lucy. Ich musste daran denken, was sie mir hinterhergerufen hatte, als wir bei Lady Tilney geflohen waren.

Noch immer konnte ich nicht glauben, dass ich vor meinem Groß vater saß. Ich suchte nach Ä hnlichkeiten mit dem Mann, auf dessen Schoß ich spannenden Geschichten gelauscht hatte. Der mich vor Charlotte in Schutz genommen hatte, wenn sie behauptete, ich wolle mich mit meinen Geistergeschichten wichtig machen. Aber das glatte Gesicht des Mannes vor mir schien ü berhaupt keine Ä hnlichkeit mit dem von Falten und Furchen durchzogenen Gesicht des alten Mannes zu haben, den ich gekannt hatte. Dafü r fand ich aber, dass er meiner Mum ä hnlich sah, die blauen Augen, die energisch geschwungene Linie des Kinns, die Art, wie er jetzt lä chelte. Ich schloss fü r einen Moment ü berwä ltigt die Augen - das hier war einfach zu - zu viel.

»Da wä ren wir also«, sagte Lucas leise.»Bin ich... ä h... ein netter Opa? «

Mich kitzelten Trä nen in der Nase, die ich nur mit Mü he zurü ckhalten konnte. Also nickte ich nur.

»Die anderen Zeitreisenden landen immer ganz offiziell und bequem oben im Drachensaal beim Chronografen oder im Dokumentenraum«, sagte Lucas.»Warum hast du dir dieses dü stere alte Labor ausgesucht? «

»Ich habe es mir nicht ausgesucht.«Ich wischte mir mit dem Handrü cken ü ber die Nase.»Ich wusste nicht mal, dass es ein Labor ist. Zu meiner Zeit ist dort ein ganz normaler Kellerraum mit einem Safe, in dem der Chronograf aufbewahrt wird.«

»Tatsä chlich? Nun, ein Labor ist das heutzutage auch schon lange nicht mehr«, sagte Lucas.»Aber ursprü nglich wurde dieser Raum als geheimes Alchemielabor genutzt. Es ist einer der ä ltesten Rä ume in diesen Gemä uern. Schon Hunderte von Jahren vor Grü ndung der Loge des Grafen von Saint Germain haben hier berü hmte Londoner Alchemisten und Magier Experimente auf der Suche nach dem Stein der Weisen angestellt. An den Wä nden kann man teilweise noch gruselige Zeichnungen und geheimnisvolle Formeln sehen und man sagt, die Mauern seien deshalb so dick, weil darin Knochen und Schä del eingemauert sind...«Er verstummte und nagte nun seinerseits an seiner Unterlippe.»Du bist also auch meine Enkelin - darf ich fragen, von welchem... ä h... meiner Kinder? «

»Meine Mum heiß t Grace«, sagte ich.»Sie sieht dir ä hnlich.«

Lucas nickte.»Lucy hat mir von Grace erzä hlt. Sie sagt, sie wä re das netteste meiner Kinder, die anderen wä ren Spieß er.«Er verzog den Mund.»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mal spieß ige Kinder bekomme... oder ü berhaupt welche...«

»Mö glicherweise liegt das ja nicht an dir, sondern an deiner Frau«, murmelte ich.

Lucas seufzte.»Seit Lucy vor zwei Monaten das erste Mal hier aufgetaucht ist, ziehen mich alle damit auf, weil sie rote Haare hat, genau wie ein Mä dchen, das mich... nun... interessiert. Aber Lucy wollte mir nicht verraten, wen ich mal heiraten werde, sie meint, sonst wü rde ich es mir womö glich anders ü berlegen. Und dann wü rdet ihr alle nicht geboren werden.«

»Entscheidender als die Haarfarbe ist wohl das Zeitreise-Gen, das deine Zukü nftige zu vererben hat«, sagte ich.»Daran dü rftest du sie doch erkannt haben.«

»Das ist ja das Komische.«Lukas rutschte auf dem Stuhl ein Stü ck nach vorne.»Ich finde gleich zwei Mä dchen aus der Jadelinie wirklich... ä hm... anziehend... Observationsnummer vier und Observationsnummer acht.«

»Aha«, sagte ich.

»Weiß t du, es ist so, dass ich mich im Augenblick nicht so recht entscheiden kann. Vielleicht wü rde ein kleiner Hinweis von deiner Seite meine Unentschlossenheit beseitigen.«

Ich zuckte mit den Achseln.»Von mir aus. Meine Groß mutter, also deine Frau, ist La-«

»Nicht! «, rief Lucas. Er hatte abwehrend beide Arme gehoben.»Ich hab's mir anders ü berlegt, sag es mir lieber doch nicht.«Verlegen kratzte er sich am Kopf.»Das ist die Schuluniform von Saint Lennox, oder? Ich erkenne die Wappen auf den Knö pfen.«

»Richtig«, sagte ich und guckte an meiner dunkelblauen Jacke hinab. Madame Rossini hatte die Sachen offensichtlich gewaschen und gebü gelt, sie sahen jedenfalls aus wie neu und rochen leicht nach Lavendel. Auß erdem hatte sie etwas mit der Jacke angestellt, sie saß jetzt viel besser.

»Meine Schwester Madeleine besucht auch die Saint Lennox. Wegen des Krieges macht sie erst dieses Jahr ihren Abschluss.«

»Tante Maddy? Das wusste ich gar nicht.«

»Alle Montrose-Mä dchen gehen nach Saint Lennox. Lucy auch. Sie hat die gleiche Schuluniform wie du. Maddys ist dunkelgrü n mit Weiß. Und der Rock ist kariert...«Lucas rä usperte sich.»Ä hm, nur, falls es dich interessiert... aber wir sollten uns jetzt besser konzentrieren und darü ber nachdenken, warum wir uns heute hier treffen. Also, angenommen, dass du diesen Zettel geschrieben hast...«

»... schreiben wirst! «

»... und ihn mir bei einer deiner kü nftigen Zeitreisen zukommen lassen wirst... - warum, glaubst du, hast du das getan? «

»Du meinst, warum ich das tun werde? «Ich seufzte.»Es macht schon irgendwie Sinn. Vermutlich kannst du mir eine Menge erklä ren. Aber ich weiß auch nicht...«Ratlos sah ich meinen jungen Groß vater an.»Kennst du Lucy und Paul gut? «

»Paul de Villiers kommt seit Januar zum Elapsieren her. Er ist in der Zeit um zwei Jahre ä lter geworden, bisschen gruselig. Und Lucy war im Juni das erste Mal hier. Ich betreue die beiden meistens wä hrend ihres Besuches. Es ist in der Regel sehr... lustig. Ich kann ihnen bei den Hausaufgaben helfen. Und ich muss sagen, Paul ist der erste de Villiers, der mir sympathisch ist.«Er rä usperte sich wieder.»Wenn du aus dem Jahr 2011 kommst, musst du die beiden doch kennen. Komische Vorstellung, dass sie mittlerweile so allmä hlich auf die vierzig zugehen... du musst sie von mir grü ß en.«

»Nein, das kann ich nicht tun.«Oje, das war alles so kompliziert. Und ich sollte wahrscheinlich vorsichtig sein mit dem, was ich erzä hlte, solange ich selber nicht begriff, was hier eigentlich vor sich ging. Die Worte meiner Mutter klangen immer noch in meinen Ohren: »Vertraue niemandem. Nicht mal deinem eigenen Gefü hl.« Aber irgendjemandem musste ich mich einfach anvertrauen und wer war dafü r besser geeignet als mein eigener Groß vater? Ich beschloss, alles auf eine Karte zu setzen:»Ich kann Lucy und Paul nicht von dir grü ß en. Sie haben den Chronografen geklaut und sind mit ihm in die Vergangenheit gesprungen.«

»Was? «Hinter seiner Brille waren Lucas' Augen weit aufgerissen.»Warum sollten sie das getan haben? Das kann ich nicht glauben. Sie wü rden doch nie... Wann soll das gewesen sein? «

»1994«, sagte ich.»In dem Jahr, in dem ich geboren wurde.«

»1994 wird Paul zwanzig und Lucy achtzehn Jahre alt sein«, sagte Lucas mehr zu sich selber als zu mir.»Also in zwei Jahren. Denn jetzt ist sie sechzehn und er achtzehn.«Er lä chelte entschuldigend.»Ich meine natü rlich nicht jetzt, sondern nur jetzt, wenn sie zum Elapsieren in dieses Jahr kommen.«

»Ich habe die letzten Nä chte nicht wirklich viel geschlafen, daher habe ich das Gefü hl, mein Gehirn besteht zur Zeit nur aus Zuckerwatte«, sagte ich.»Und im Rechnen bin ich sowieso eine Niete.«

»Lucy und Paul sind... - was du mir erzä hlst, macht gar keinen Sinn. Sie wü rden so etwas - Wahnsinniges niemals tun.«

»Haben sie aber. Ich dachte, du kö nntest mir vielleicht sagen, warum. In meiner Zeit wollen mir alle weismachen, dass sie... bö se sind. Oder verrü ckt. Oder beides. Auf jeden Fall gefä hrlich. Als ich Lucy getroffen habe, hat sie gesagt, ich solle dich nach dem grü nen Reiter fragen. Also: Was ist der grü ne Reiter? «

Lucas starrte mich perplex an.»Du hast Lucy getroffen? Gerade hast du doch gesagt, sie und Paul seien im Jahr deiner Geburt verschwunden.«Dann schien ihm noch etwas einzufallen:»Wenn sie den Chronografen mitgenommen haben, wie kannst du dann ü berhaupt in der Zeit reisen? «

»Ich habe sie im Jahr 1912 getroffen. Bei Lady Tilney. Und es gibt einen zweiten Chronografen, den die Wä chter fü r uns benutzen.«

»Lady Tilney? Die ist seit vier Jahren tot. Und der zweite Chronograf ist gar nicht funktionsfä hig.«

Ich seufzte.»Jetzt ist er es. Hö r mal, Grandpa«- bei diesem Wort zuckte Lucas zusammen -»fü r mich ist das alles noch viel verworrener als fü r dich, denn bis vor ein paar Tagen hatte ich nicht die geringste Ahnung von diesem ganzen Kram. Ich kann dir gar nichts erklä ren. Ich bin zum Elapsieren hierhergeschickt worden, meine Gü te, ich weiß nicht mal, wie dieses blö de Wort geschrieben wird, ich habe es gestern zum ersten Mal gehö rt. Es ist erst das dritte Mal, dass ich ü berhaupt mit dem Chronografen in der Zeit reise. Davor bin ich dreimal unkontrolliert gesprungen. Was nicht besonders spaß ig war. Aber eigentlich haben alle gedacht, meine Cousine Charlotte sei die Genträ gerin, weil sie nä mlich am richtigen Tag geboren wurde und meine Mum, was meinen Geburtstag angeht, gelogen hat. Charlotte hat deshalb an meiner Stelle Tanzunterricht bekommen, weiß alles ü ber die Pest und King George, kann fechten, im Damensattel reiten und Klavier spielen - und weiß der Himmel, was sie in ihrem Mysterienunterricht alles gelernt hat.«Je mehr ich sprach, desto schneller sprudelten die Worte aus mir heraus.»Ich jedenfalls weiß gar nichts, auß er dem bisschen, das man mir bisher verraten hat, und das war wahrhaftig nicht besonders viel oder besonders erhellend - und was noch viel schlimmer ist: Ich hatte bisher nicht mal Zeit, mir auf die Geschehnisse einen Reim zu machen. Leslie - das ist meine Freundin - hat alles gegoogelt, aber Mr Whitman hat uns den Ordner weggenommen, auß erdem habe ich sowieso nur die Hä lfte kapiert. Alle scheinen irgendetwas Besonderes von mir erwartet zu haben und sind jetzt enttä uscht.«

»Rubinrot, begabt mit der Magie des Raben, schließ t G-Dur den Kreis, den zwö lf gebildet haben«, murmelte Lucas.

»Ja, siehst du, Magie des Raben, blablabla. Leider bei mir Fehlanzeige. Der Graf von Saint Germain hat mich gewü rgt, obwohl er ein paar Meter von mir entfernt stand, und ich konnte seine Stimme in meinem Kopf hö ren und dann waren da diese Mä nner im Hyde Park mit Pistolen und Degen und ich musste einen davon erstechen, weil er sonst Gideon ermordet hä tte, der ein... er ist ein solcher...«Ich holte tief Luft, nur um gleich weiterzusprudeln:»Gideon ist eigentlich ein richtiges Ekel, er tut so, als wä re ich nur ein Klotz an seinem Bein, und heute Morgen hat er Charlotte einen Kuss gegeben, nur auf die Wange, aber vielleicht hat es was zu bedeuten, ich hä tte ihn auf keinen Fall kü ssen dü rfen, ohne vorher danach zu fragen, ü berhaupt kenne ich ihn doch erst einen Tag oder zwei, aber plö tzlich war er so... nett und dann... es ging alles so schnell... und alle denken, ich hä tte Lucy und Paul verraten, wann wir Lady Tilney aufsuchen, denn wir brauchen ja ihr Blut und das von Lucy und Paul brauchen wir auch, aber sie brauchen auch das von Gideon und mir, weil das in ihrem Chronografen noch fehlt. Und keiner sagt mir, was passiert, wenn das Blut von allen in den Chronografen eingelesen ist, und manchmal denke ich, sie wissen es selber nicht genau. Und ich soll dich nach dem grü nen Reiter fragen, hat Lucy gesagt.«


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