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London, 14. Mai 1602 8






Ja, da hatte er wohl recht.Gibt es ü ber dich auch etwas in der Prophezeiung?

Natü rlich, sagte Gideon.Ü ber jeden Zeitreisenden. Ich bin der Lö we mit der Mä hne aus Diamant, bei dessen Anblick die Sonne...Fü r einen Augenblick schien er plö tzlich verlegen zu sein, dann fuhr er grinsend fort:Blablabla. Oh und deine Urururgroß mutter, die stö rrische Lady Tilney, ist passenderweise ein Fuchs, ein Jadefuchs, der sich unter einer Linde versteckt.

Kann man aus dieser Prophezeiung ü berhaupt irgendwie schlau werden?

Durchaus - es wimmelt nur so von Symbolen. Alles eine Frage der Interpretation.Er sah auf seine Armbanduhr.Wir haben noch Zeit. Ich bin dafü r, dass wir unsere Tanzstunden fortsetzen.

Wird auf der Soiree auch getanzt?

Eher nicht, sagte Gideon.Dort wird wohl nur gegessen, getrunken, geplaudert und - ä h - musiziert. Dich wird man garantiert auch bitten, etwas zu spielen oder vorzutragen.

Tja, sagte ich.Ich hä tte wohl doch besser Klavierunterricht genommen, als mit Leslie diesen Hip-Hop-Kurs zu machen. Aber ich kann eigentlich ganz gut singen. Letztes Jahr auf Cynthias Party habe ich absolut unangefochten den Karaokewettbewerb gewonnen. Mit meiner ganz persö nlichen Interpretation von Somewhere over the rainbow. Und das, obwohl ich recht unvorteilhaft als Bushaltestelle verkleidet war.

Ä h, ja. Wenn du gefragt wirst, sagst du einfach, dass dir die Stimme immer wegbleibt, wenn du vor Leuten etwas singen musst.

Das darf ich sagen, aber nicht, dass ich mir den Fuß verstaucht habe?

Hier, die Kopfhö rer. Das Gleiche noch mal.Er verbeugte sich vor mir.

Was mache ich, wenn mich jemand anders auffordert als du? Ich versank in meinen Knicks - quatsch, in meine Reverenz.

Dann machst du alles genauso, sagte Gideon und nahm meine Hand.Aber im 18. Jahrhundert ging es, was das betrifft, recht fö rmlich zu. Man forderte nicht einfach ein fremdes Mä dchen auf, ohne ihr offiziell vorgestellt worden zu sein.

Es sei denn, sie machte irgendwelche obszö nen Bewegungen mit ihrem Fä cher.Allmä hlich gingen mir die Tanzschritte in Fleisch und Blut ü ber.Immer wenn ich meinen Fä cher auch nur um einen Zentimeter gekippt habe, hat Giordano einen Nervenzusammenbruch erlitten und Charlotte hat den Kopf geschü ttelt wie ein trauriger Wackeldackel.

Sie will dir doch nur helfen, sagte Gideon.

Ja, genau. Und die Erde ist eine Scheibe, schnaubte ich, obwohl das beim Menuett-Tanzen sicher nicht erlaubt war.

Man kö nnte denken, dass ihr euch nicht besonders mö gt.Wir drehten uns mit unserem jeweiligen Scheinpartner im Kreis.

Ach? Kö nnte man, ja?

Ich glaube, auß er Tante Glenda, Lady Arista und unseren Lehrern gibt es niemanden, der Charlotte mag.

Das glaube ich nicht, sagte Gideon.

Oh - ich vergaß natü rlich noch Giordano und dich. Ups, jetzt habe ich mit den Augen gerollt, das ist bestimmt verboten im 18. Jahrhundert.

Kann es sein, dass du ein bisschen eifersü chtig auf Charlotte bist?

Ich musste lachen.Vertrau mir, wenn du sie so gut kennen wü rdest wie ich, wü rdest du so eine dumme Frage gar nicht erst stellen.

Ich kenne sie eigentlich ganz gut, sagte Gideon leise und nahm wieder meine Hand.

Ja, aber nur von ihrer Schokoladenseite, wollte ich sagen, aber dann ging mir der Sinn seines Satzes auf und ich wurde auf einen Schlag tatsä chlich ganz fü rchterlich eifersü chtig auf Charlotte.Wie gut kennt ihr euch denn so... im Einzelnen? Ich entzog Gideon meine Hand und reichte sie stattdessen seinem nicht vorhandenen Nachbarn.

Naja, ich wü rde sagen, so gut, wie man sich eben kennt, wenn man viel Zeit miteinander verbringt.Beim Vorbeigehen lä chelte er maliziö s.Und wir hatten ja beide nicht besonders viel Zeit fü r andere... ä h... Freundschaften.

Verstehe. Da muss man nehmen, was man hat.Ich konnte es keine Sekunde lä nger aushalten.Und - wie kü sst Charlotte so?

Gideon griff nach meiner Hand, die mindestens zwanzig Zentimeter zu hoch in der Luft hing.Ich finde, Ihr macht groß artige Fortschritte in Sachen Konversation - dennoch: Ü ber solche Dinge spricht ein Gentleman nicht.

Ja, diese Ausrede wü rde ich gelten lassen, wenn du ein Gentleman wä rst.

Sollte ich Euch jemals Anlass gegeben haben, mein Verhalten als nicht gentlemanlike zu beurteilen, so...

Ach, halt die Klappe! Was auch immer zwischen dir und Charlotte lä uft - es interessiert mich gar nicht. Aber ich finde es ziemlich dreist, dass du es gleichzeitig spaß ig findest, mit mir... rumzumachen.

Rumzumachen? Was fü r ein unschö nes Wort. Ich wä re Euch sehr dankbar, wenn Ihr mich ü ber die Ursache Eures Unmuts aufklä ren und dabei an eure Ellenbogen denken kö nntet. Sie gehö ren bei dieser Figur nach unten.

Das ist nicht komisch, fauchte ich.Ich hä tte mich nicht von dir kü ssen lassen, wenn ich gewusst hä tte, dass du und Charlotte...Ah, Mozart war vorbei und Linkin Park wieder an der Reihe. Gut, das passte auch besser zu meiner Stimmung.

Ich und Charlotte - was? ... mehr seid als Freunde.Wer sagt das? Du?

Das habe ich gar nicht.

Aha. Also - ihr habt euch noch nie - sagen wir mal - gekü sst? Ich verzichtete auf den Knicks und funkelte ihn stattdessen an.

Das habe ich auch nicht gesagt.Er verneigte sich und griff nach dem iPod in meiner Tasche.Gleich noch einmal, das mit den Armen musst du noch ü ben. Sonst war es toll.

Dafü r lä sst deine Konversation aber sehr zu wü nschen ü brig, sagte ich.Hast du nun was mit Charlotte oder nicht?

Ich denke, es interessiert dich gar nicht, was mit mir und Charlotte ist.

Ich funkelte noch immer.Richtig, ja.

Dann ist es ja gut.Gideon reichte mir den iPod zurü ck.

Aus den Kopfhö rern kam Hallelujah, die Version von Bon Jovi.

Das ist das falsche Stü ck, sagte ich.Nein, nein, sagte Gideon und grinste.Ich dachte, du brauchst jetzt was Beruhigendes.Du... du bist so... so ein...Ja?

Kotzbrocken?

Er kam noch einen Schritt nä her, sodass schä tzungsweise noch genau ein Zentimeter Platz zwischen uns war.Siehst du: Das ist der Unterschied zwischen Charlotte und dir: Sie wü rde so etwas niemals sagen.

Mir fiel das Atmen plö tzlich schwer.Vielleicht weil du ihr keinen Grund dazu gibst.

Nein, das ist es nicht. Ich glaube, sie hat einfach die besseren Manieren.

Ja, und die stä rkeren Nerven, sagte ich. Aus irgendeinem Grund musste ich auf Gideons Mund starren.Nur fü r den Fall, dass du es noch einmal versuchen willst, wenn wir irgendwo in einem Beichtstuhl rumhä ngen und uns langweilen: Ein zweites Mal lasse ich mich nicht ü berrumpeln!

Du meinst - ein zweites Mal lä sst du dich nicht von mir kü ssen?

Genau, flü sterte ich, unfä hig, mich zu rü hren.

Schade, sagte Gideon, wobei sein Mund so nahe an meinen kam, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen fü hlte. Mir war klar, dass ich mich nicht unbedingt so verhielt, als wü rde ich meine Worte ernst meinen. Meinte ich auch nicht. Ich musste es mir schon hoch anrechnen, dass ich Gideon nicht die Arme um den Hals warf. Den Zeitpunkt, mich wegzudrehen oder ihn von mir zu schubsen, hatte ich jedenfalls lä ngst verpasst.

Offensichtlich sah Gideon das genauso. Seine Hand begann, mein Haar zu streicheln, und dann spü rte ich endlich die sanfte Berü hrung seiner Lippen.

There's a blaze of light in every word, sang Bon Jovi in mein Ohr. Ich hatte diesen verdammten Song schon immer geliebt, es war einer von denen, die ich auch fü nfzehn Mal hintereinander hö ren konnte, aber jetzt wü rde er wohl auf immer und ewig mit der Erinnerung an Gideon verknü pft sein.

Halleluja.

 

 


Dieses Mal wurden wir nicht gestö rt, weder durch einen Zeitsprung noch durch einen frechen Wasserspeierdä mon. Wä hrend Hallelujah lief, blieb der Kuss ganz sanft und vorsichtig, aber dann vergrub Gideon beide Hä nde in meinen Haaren und zog mich fest an sich. Das war kein sanfter Kuss mehr und meine Reaktion darauf ü berraschte mich selber. Mein Kö rper fü hlte sich plö tzlich ganz weich und leicht an und ich schlang von ganz allein die Arme um Gideons Hals. Ich hatte keine Ahnung, wie, aber irgendwann in den nä chsten Minuten und ohne aufzuhö ren, uns zu kü ssen, landeten wir auf dem grü nen Sofa, und dort kü ssten wir uns weiter, so lange, bis Gideon sich sehr abrupt aufsetzte und auf seine Uhr sah.

Wie gesagt, wirklich schade, dass ich dich nicht mehr kü ssen darf, sagte er etwas atemlos. Seine Pupillen waren riesig und seine Wangen eindeutig gerö tet.

Ich fragte mich, wie ich erst aussehen musste. Da ich vorü bergehend zu einer Art menschlicher Pudding mutiert war, war ich nicht in der Lage, mich aus meiner halb liegenden Position zu befreien. Und ich musste mit Entsetzen feststellen, dass ich keine Ahnung hatte, wie viel Zeit seit Hallelujah vergangen war. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Alles war mö glich.

Gideon schaute mich an und ich glaubte, so etwas wie Fassungslosigkeit in seinem Blick zu erkennen.

Wir sollten unsere Sachen zusammenpacken, sagte er schließ lich.Und du solltest dringend etwas mit deinen Haaren machen - sie sehen aus, als hä tte irgend so ein Idiot mit beiden Hä nden darin herumgewü hlt und dich dann auf ein Sofa geworfen... Wer immer gleich auf uns wartet, wird eins und eins zusammenzä hlen kö nnen... Oh Gott, schau mich nicht so an.

Wie denn?

Als ob du dich nicht mehr bewegen kö nntest.

Aber genauso ist es, sagte ich ernst.Ich bin ein Pudding. Du hast mich in einen Pudding verwandelt.

Ein kurzes Lä cheln erhellte Gideons Gesicht, dann sprang er auf seine Fü ß e und begann, meine Schulsachen in die Tasche zu packen.Komm schon, kleiner Pudding, steh auf. Hast du einen Kamm oder eine Bü rste dabei?

Irgendwo da drin, sagte ich matt.

Gideon hielt das Sonnenbrillenetui von Leslies Mutter in die Hö he.Da drin?

Nein! , rief ich aus und vor lauter Schreck hatte mein Dasein als Pudding ein Ende. Ich sprang auf, riss Gideon das Etui mit dem japanischen Gemü semesser aus der Hand und warf es zurü ck in die Tasche. Falls Gideon sich wunderte, ließ er es sich nicht anmerken. Er stellte den Stuhl zurü ck auf seinen Platz an der Wand und blickte erneut auf seine Uhr, wä hrend ich meine Haarbü rste herausnahm.

Wie viel Zeit haben wir noch?

Zwei Minuten, sagte Gideon und hob den iPod vom Boden auf. Keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war. Oder wann.

Ich bü rstete mir hastig durch die Haare.

Gideon betrachtete mich mit ernstem Blick.Gwendolyn?

Hm? Ich ließ die Haarbü rste sinken und erwiderte seinen Blick, so ruhig ich konnte. Oh mein Gott! Er sah so unglaublich gut aus und ein Teil von meinem Kö rper wollte sich wieder in einen Pudding verwandeln.

Hast du...?

Ich wartete.Was?

Ach nichts.

In meinem Magen machte sich das altbekannte Schwindelgefü hl breit.Ich glaube, es geht gleich los, sagte ich.

Nimm die Tasche fest in die Hand, du darfst sie auf keinen Fall loslassen. Und komm ein Stü ck hier rü ber, sonst landest du auf dem Tisch.

Noch wä hrend ich ging, verschwamm alles vor meinen Augen. Und nur Bruchteile einer Sekunde spä ter landete ich sanft auf meinen Fü ß en, direkt vor den weit aufgerissenen Augen von Mr Marley. Xemerius' freche Fratze blickte ihm ü ber die Schulter.

Na endlich, sagte Xemerius.Ich muss dem Rothaarigen schon seit einer Viertelstunde bei seinen Selbstgesprä chen zuhö ren.

Sind Sie wohlauf, Miss? , stotterte Mr Marley, wä hrend er einen Schritt zurü cktrat.

Ja, ist sie, sagte Gideon, der hinter mir gelandet war, und warf mir einen prü fenden Blick zu. Als ich ihn anlä chelte, schaute er schnell zur Seite.

Mr Marley rä usperte sich.Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie im Drachensaal erwartet werden, Sir. Der Innen... Nummer sieben ist eingetroffen und wü nscht ein Gesprä ch mit Ihnen. Wenn Sie erlauben, bringe ich die Miss zu ihrem Wagen.

Die Miss hat ü berhaupt keinen Wagen, sagte Xemerius.Die hat nicht mal den Fü hrerschein, du Pfeife.

Das ist nicht nö tig, ich nehme sie mit hoch.Gideon griff nach der schwarzen Augenbinde.

Muss das denn wirklich sein?

Ja, das muss sein.Gideon knotete den Schal auf meinem Hinterkopf zusammen. Er verarbeitete dabei auch ein paar meiner Haare und es ziepte, aber ich wollte nicht jammern, also biss ich mir nur auf die Lippe.Wenn du den Aufenthaltsort des Chronografen nicht kennst, kannst du ihn nicht verraten und niemand kann uns ü berraschenderweise auflauern, wenn wir - wann auch immer - in besagtem Raum landen.

Aber dieser Keller gehö rt den Wä chtern und die Ein- und Ausgä nge sind doch zu allen Zeiten bewacht, sagte ich.

Erstens gibt es noch mehr Wege in diese Gewö lbe als durch die Gebä ude in Temple und zweitens kann man nicht ausschließ en, dass jemand aus den eigenen Reihen Interesse an einem ü berraschenden Treffen hä tte.

Traue niemandem. Nicht mal deinem eigenen Gefü hl, murmelte ich. Lauter misstrauische Menschen hier.

Gideon legte eine Hand um meine Taille und schob mich vorwä rts.Genau.

Ich hö rte Mr Marley Auf Wiedersehen sagen, dann fiel die Tü r hinter uns ins Schloss. Stumm gingen wir nebeneinanderher. Dabei gab es eine Menge Dinge, ü ber die ich gern geredet hä tte, ich wusste nur nicht, wo ich anfangen sollte.

Mein Gefü hl sagt mir, dass ihr wieder rumgeknutscht habt, bemerkte Xemerius.Das Gefü hl und mein Scharfblick.

Unsinn, erwiderte ich und hö rte Xemerius in keckerndes Gelä chter ausbrechen.

Glaub mir, ich bin seit dem 11. Jahrhundert auf dieser Erde und ich weiß, wie ein Mä dchen aussieht, das aus einem Heuhaufen kommt.

Heuhaufen! , wiederholte ich empö rt.

Sprichst du mit mir? , fragte Gideon.

Mit wem sonst? , sagte ich.Wie spä t ist es eigentlich? Apropos Heu. Ich habe einen Bä renhunger.

Gleich halb acht.Gideon ließ mich unvermittelt los. Eine Reihe von elektronischen Pieptö nen war zu hö ren, dann rammte ich mit meiner Schulter eine Mauer.

Hey!

Xemerius brach erneut in Gelä chter aus.Das nenne ich mal einen echten Kavalier.

Entschuldige. Das Scheiß -Handy hat hier unten keinen Empfang. Vierunddreiß ig Anrufe in Abwesenheit, na super! Das kann nur... oh Gott, meine Mutter! Gideon seufzte schwer.Sie hat elfmal auf die Mailbox gesprochen.

Ich tastete mich an der Mauer entlang vorwä rts.Entweder du nimmst mir die blö de Augenbinde ab oder du fü hrst mich!

Schon gut.Da war seine Hand wieder.

Ich weiß nicht, was ich von Typen halten soll, die ihrer Freundin die Augen zubinden, damit sie in Ruhe ihr Handy checken kö nnen, sagte Xemerius.

Das wusste ich allerdings auch nicht.Ist was Schlimmes passiert?

Wieder ein Seufzer.Das nehme ich an. Wir telefonieren sonst nicht oft miteinander. Immer noch kein Empfang.

Achtung Stufe, warnte Xemerius.

Vielleicht ist jemand krank, sagte ich.Oder du hast was Wichtiges vergessen. Meine Mum hat mir neulich auch x-mal auf die Mailbox gesprochen, um mich daran zu erinnern, meinem Onkel Harry zum Geburtstag zu gratulieren. Huch.

Wenn Xemerius keinen Warnruf ausgestoß en hä tte, hä tte ich mir den Treppengelä nderknauf in den Bauch gerammt. Gideon merkte es noch nicht mal. Ich tastete mich selber, so gut es ging, die Wendeltreppe hinauf.

Nein, das ist es nicht. Ich vergesse niemals einen Geburtstag.Er klang gehetzt.Es muss etwas mit Raphael sein.

Deinem kleinen Bruder?

Andauernd macht er gefä hrliche Sachen. Fä hrt ohne Fü hrerschein Auto, stü rzt sich von Klippen und klettert ohne Sicherung in den Bergen rum. Keine Ahnung, wem er damit was beweisen will. Letztes Jahr hat er sich beim Paragliding verletzt und lag drei Wochen mit einem Schä del-Hirn-Trauma im Krankenhaus. Man sollte doch denken, dass er daraus gelernt hä tte, aber nein, zum Geburtstag hat er sich von Monsieur ein Speedboot schenken lassen. Und der Idiot liest ihm natü rlich jeden Wunsch von den Augen ab.Oben angelangt beschleunigte Gideon seine Schritte und ich geriet mehrmals ins Stolpern.Ah, endlich! Hier geht's.Offensichtlich hö rte er nun im Gehen seine Mailbox ab. Leider konnte ich nichts verstehen.

Oh, Scheiß e! , hö rte ich ihn nur mehrmals murmeln. Er hatte mich wieder losgelassen und ich taperte blind vorwä rts.

Wenn du nicht gegen eine Wand laufen willst, solltest du jetzt links abbiegen, informierte mich Xemerius.Oh, jetzt ist ihm wohl auch eingefallen, dass du kein eingebautes Radarsystem besitzt.

Okay..., murmelte Gideon. Seine Hä nde berü hrten kurz mein Gesicht, dann den Hinterkopf.Gwendolyn, tut mir leid.Sorge klang aus seiner Stimme, aber ich vermutete stark, dass sie nicht mir galt.Findest du von hier aus allein zurü ck? Er knotete den Schal auf und ich blinzelte ins Licht. Wir standen vor Madame Rossinis Atelier.

Gideon streichelte flü chtig meine Wange und lä chelte schief.Du kennst den Weg, ja? Dein Wagen wartet. Wir sehen uns dann morgen.

Und ehe ich antworten konnte, hatte er sich schon abgewandt.

Und weg ist er, sagte Xemerius.Nicht die feine Art, eigentlich.

Was ist denn passiert? , rief ich hinter Gideon her.

Mein Bruder ist von zu Hause abgehauen, antwortete er, ohne sich umzudrehen oder langsamer zu werden.Und dreimal darfst du raten, wohin er unterwegs ist.Aber er war um die nä chste Ecke verschwunden, ehe ich auch nur einmal raten konnte.

Ich tippe dann mal nicht auf die Fidschis, murmelte ich.

Ich denke, du wä rst besser nicht mit ihm ins Heu gegangen, sagte Xemerius.Jetzt denkt er, du bist leicht zu haben, und gibt sich keine Mü he mehr.

Halt die Klappe, Xemerius. Das Gerede von Heu macht mich ganz nervö s. Wir haben uns nur ein bisschen gekü sst.

Kein Grund, sich in eine Tomate zu verwandeln, Schä tzchen!

Ich fasste mir an die glü henden Wangen und ä rgerte mich.Los, lass uns gehen, ich habe Hunger. Heute habe ich wenigstens eine Chance, noch etwas vom Abendessen zu bekommen. Und vielleicht erhaschen wir auf dem Weg noch einen Blick auf diese geheimnisvollen Mä nner vom Inneren Kreis.

Bloß nicht! Ich habe sie den ganzen Nachmittag belauscht, sagte Xemerius.Oh, gut! Erzä hl!

Lang-wei-lig! Ich dachte, die wü rden Blut aus Totenkö pfen trinken und sich geheimnisvolle Runen auf die Arme pinseln. Aber nee - nur geredet haben sie, in Anzug und Schlips.

Und worü ber genau?

Mal sehen, ob ich das noch zusammenkriege.Er rä usperte sich.Es ging im Wesentlichen um die Frage, ob man die goldenen Regeln brechen dü rfte, um Schwarzer Turmalin und Saphir zu ü berlisten. Super Idee, meinten die einen; nee, auf keinen Fall, die anderen; dann die einen wieder: Doch, sonst wird das nie was mit der Rettung der Welt, ihr Feiglinge, darauf die anderen: Nee, aber das ist bö se, auß erdem gefä hrlich von wegen Kontinuum und Moral; die einen dann: Ja, aber scheiß egal, wenn dadurch die Welt gerettet wird; dann salbungsvolles Geschwafel von beiden Seiten - ich glaube, dabei bin ich eingeschlafen. Anschließ end waren sie sich aber wieder alle einig, dass der Diamant leider dazu neigt, eigenmä chtig zu handeln, wä hrend der Rubin ein kleiner Volltrottel zu sein scheint und daher nicht fü r die Zeitreisemissionen Operation Opal und Operation Jade infrage kommt, weil einfach zu dä mlich. Kannst du mir so weit folgen? Ä h...

Natü rlich habe ich dich verteidigt, aber sie haben nicht auf mich gehö rt, sagte Xemerius.Die Rede war davon, dass man dich von allen Informationen so weit wie mö glich fernhalten solle. Dass du in deiner durch mangelnde Erziehung bedingten Naivitä t und deiner Unwissenheit bereits jetzt ein Sicherheitsrisiko bist und auß erdem die Indiskretion in Person. Deine Freundin Leslie jedenfalls wollen sie auch im Auge behalten.

Oh, Scheiß e.

Die gute Nachricht ist, dass sie die Schuld an deiner Unfä higkeit ganz und gar deiner Mutter in die Schuhe schieben. Weiber sind ü berhaupt immer an allem schuld, da waren sie sich einig, die Herren Geheimniskrä mer. Und dann ging es noch mal um lauter Beweise, Schneiderrechnungen, Briefe, gesunder Menschenverstand und nach einigem Hin und Her stimmten alle darin ü berein, dass Paul und Lucy mit dem Chronografen ins Jahr 1912 gesprungen seien, wo sie jetzt lebten. Wobei das Wort jetzt in diesem Fall nicht wirklich passt.Xemerius kratzte sich am Kopf.Egal, da verstecken sich die beiden jedenfalls, da sind sich alle ganz sicher, und bei der nä chsten Gelegenheit soll dein wunderbarer, starker Held sie aufspü ren, ihnen Blut abzapfen und den Chronografen wieder abnehmen, wo er schon mal dabei ist, und dann ging es wieder von vorne los, blablabla, goldene Regeln, salbungsvolles Geschwafel...Ist ja interessant, sagte ich.

Findest du? Wenn ja, dann liegt es nur an meiner hö chst amü santen Art, den langweiligen Kram zusammenzufassen.

Ich ö ffnete die Tü r zum nä chsten Korridor und wollte gerade Xemerius antworten, als ich eine Stimme hö rte:Du bist immer noch genauso arrogant wie frü her!

Das war meine Mum! Und tatsä chlich, als ich um die Ecke bog, sah ich sie. Sie stand vor Falk de Villiers und hatte beide Hä nde zu Fä usten geballt.

Und du noch genauso starrkö pfig und uneinsichtig! , sagte Falk.Was du dir - warum auch immer - mit deinen Verschleierungsversuchen, Gwendolyns Geburt betreffend, erlaubt hast, hat der Sache erheblich geschadet.

Der Sache! Eure Sache war euch immer schon wichtiger als die Menschen, die an dieser Sache beteiligt sind! , rief meine Mutter.

Ich schloss die Tü r so leise wie mö glich und ging langsam weiter.

Xemerius hangelte sich an der Wand entlang.Boah, die sieht aber wü tend aus.

Das stimmte. Die Augen meiner Mum glitzerten, ihre Wangen waren gerö tet und ihre Stimme war ungewö hnlich hoch.Wir hatten uns darauf geeinigt, dass Gwendolyn da rausgehalten wird. Dass sie nicht in Gefahr gebracht wird! Und jetzt wollt ihr sie dem Grafen direkt auf einem Tablett servieren. Sie ist doch vollkommen... hilflos!

Und daran bist du allein schuld, sagte Falk de Villiers kalt.

Mum biss sich auf ihre Lippe.Als Groß meister dieser Loge hast du die Verantwortung!

Hä ttest du von Anfang an mit offenen Karten gespielt, wä re Gwendolyn jetzt nicht unvorbereitet. Nur damit du es weiß t - mit deiner Geschichte, von wegen, du wolltest deiner Tochter eine unbeschwerte Kindheit verschaffen, konntest du vielleicht Mr George tä uschen, aber nicht mich. Ich bin nach wie vor sehr gespannt auf das, was uns diese Hebamme erzä hlen kann.

Ihr habt sie noch nicht gefunden? Meine Mutter klang nicht mehr ganz so schrill.

Es ist nur eine Frage von Tagen, Grace. Wir haben unsere Leute ü berall.Jetzt bemerkte er meine Gegenwart und der kalte, zornige Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand.

Warum bist du allein, Gwendolyn?

Liebling! Meine Mum stü rzte auf mich zu und umarmte mich.Ich dachte, ehe es wieder so spä t wird wie gestern, hole ich dich lieber ab.

... und nutzt die Gelegenheit, mich mit Vorwü rfen zu ü berhä ufen, ergä nzte Falk mit einem kleinen Lachen.Warum ist Mr Marley nicht bei dir, Gwendolyn?

Das letzte Stü ck durfte ich allein gehen, sagte ich ausweichend.Worü ber habt ihr euch gestritten?

Deine Mummy denkt, deine Ausflü ge ins 18. Jahrhundert seien zu gefä hrlich, sagte Falk.

Ja, das konnte ich ihr nicht verü beln. Und dabei kannte sie nicht mal einen Bruchteil der Gefahren. Von den Mä nnern, die uns im Hyde Park angegriffen hatten, hatte ihr niemand etwas erzä hlt. Ich jedenfalls hä tte mir eher die Zunge abgebissen. Von Lady Tilney und den Pistolen konnte sie auch nichts wissen, und dass der Graf von Saint Germain mich auf sehr gruselige Weise bedroht hatte, das hatte ich bisher nur Leslie anvertraut. Ah, und meinem Grandpa, natü rlich.

Ich sah Falk prü fend an.Das mit dem Fä cherwedeln und dem Menuett-Tanzen kriege ich schon hin, sagte ich leichthin.Das ist nicht wirklich riskant, Mum. Die einzige Gefahr besteht darin, dass ich den Fä cher auf Charlottes Kopf zu Kleinholz haue...

Da hö rst du's, Grace, sagte Falk und zwinkerte mir zu.

Wem willst du hier etwas vormachen, Falk! Meine Mum schleuderte einen letzten finsteren Blick auf ihn, dann nahm sie meinen Arm und zog mich fort.Komm. Die anderen warten mit dem Essen auf uns.

Bis morgen, Gwendolyn, rief Falk hinter uns her.Und ä h - bis irgendwann mal, Grace.

Wiedersehen, murmelte ich. Mum murmelte auch, allerdings etwas Unverstä ndliches.

Also wenn du mich fragst - Heuhaufen, sagte Xemerius.Mich kö nnen sie mit ihrem Gezä nk nicht tä uschen. Ich erkenne Heuhaufen-Bekanntschaften, wenn ich sie sehe.

Ich seufzte. Mum seufzte ebenfalls und zog mich enger an sich, wä hrend wir die letzten Meter bis zum Ausgang hinter uns brachten. Ich machte mich erst ein bisschen steif, aber dann legte ich meinen Kopf gegen ihre Schulter.Du sollst dich meinetwegen nicht mit Falk streiten. Du machst dir zu viele Sorgen, Mum.

Das sagst du so leicht... Es ist kein schö nes Gefü hl, wenn man denkt, alles falsch gemacht zu haben. Ich merke doch, dass du wü tend auf mich bist.Wieder seufzte sie.Und das irgendwie zu Recht.

Ich hab dich aber trotzdem lieb, sagte ich.

Mum kä mpfte mit den Trä nen.Und ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst, murmelte sie. Wir hatten die Gasse vor dem Haus erreicht und sie sah sich um, als fü rchtete sie, dass uns jemand im Dunkeln auflauern kö nnte.Ich wü rde alles dafü r geben, eine ganz normale Familie mit einem ganz normalen Leben zu haben.

Was ist schon normal? , sagte ich.

Wir jedenfalls nicht.

Alles eine Frage der Einstellung. Also, wie war dein Tag? , erkundigte ich mich ironisch.

Oh, das Ü bliche, sagte Mum mit einem schwachen Grinsen.Erst ein kleiner Streit mit meiner Mutter, dann ein grö ß erer Streit mit meiner Schwester, auf der Arbeit ein bisschen Streit mit meinem Chef und schließ lich noch Streit mit meinem... Exfreund, der zufä lligerweise der Groß meister einer unheimlich geheimen Geheimloge ist.

Hab ich es nicht gesagt? Xemerius jubelte fast.Heuhaufen!!

Siehst du, ganz normal, Mum!

Mum lä chelte immerhin.Und wie war dein Tag, Liebling? Auch keine besonderen Vorkommnisse. In der Schule Stress mit dem Eichhö rnchen, danach ein bisschen Tanz- und Anstandsunterricht bei dieser obskuren Geheimgesellschaft, die sich mit Zeitreisen beschä ftigt, dann, bevor ich die liebenswerte Cousine erwü rgen konnte, ein kleiner Ausflug ins Jahr 1953, um in Ruhe meine Hausaufgaben zu erledigen, um morgen wiederum weniger Stress mit besagtem Eichhö rchen zu haben.

Klingt ziemlich entspannt.Mums Absä tze klapperten ü ber das Pflaster. Sie sah sich wieder um.

Ich glaube nicht, dass uns jemand folgt, beruhigte ich sie.Sie haben alle genug zu tun - das Haus wimmelt nur so von unheimlich geheimen Leuten.

Der Innere Kreis tritt zusammen - das passiert nicht oft. Das letzte Mal sind sie zusammengekommen, als Lucy und Paul den Chronografen gestohlen haben. Sie sind ü ber die ganze Welt verstreut...

Mum? Meinst du nicht, es wä re an der Zeit, mir zu sagen, was du weiß t? Es nutzt niemandem, dass ich immer nur im Dunkeln herumtappen muss.

Im wahrsten Sinne des Wortes, sagte Xemerius.

Mum blieb stehen.Du ü berschä tzt mich! Das bisschen Wissen, das ich habe, wü rde dir gar nichts nutzen. Vermutlich wü rde es dich nur noch mehr verwirren. Oder noch schlimmer: dich zusä tzlich in Gefahr bringen.


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