:






London, 14. Mai 1602 17






Ich schloss die Augen und ließ meinen Hinterkopf gegen seine Schulter sinken und er zog mich noch fester an sich.

Wie gesagt, du machst es einem wirklich nicht leicht. In Kirchen komme ich bei dir immer auf dumme Gedanken...

Es gibt da etwas, das du nicht ü ber mich weiß t, sagte ich mit geschlossenen Augen.Manchmal, da sehe ich... ich kann... also, Menschen, die lä ngst tot sind... manchmal kann ich sie sehen und hö ren, was sie sagen. So wie vorhin. Ich glaube, der Mann, den ich neben Lord Alastair gesehen habe, kö nnte dieser italienische Conte gewesen sein.

Gideon schwieg. Wahrscheinlich ü berlegte er gerade, wie er mir mö glichst taktvoll einen guten Psychiater empfehlen sollte.

Ich seufzte. Ich hä tte es fü r mich behalten sollen. Jetzt hielt er mich zu allem Ü berfluss auch noch fü r verrü ckt.

Es geht los, Gwendolyn, sagte er, schob mich ein Stü ck von sich und drehte mich so, dass ich ihn ansehen konnte. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck deuten zu kö nnen, aber ich sah, dass er nicht lä chelte.Es wä re schö n, wenn du in den Sekunden, in denen ich weg bin, stehen bleiben kö nntest. Bereit?

Ich schü ttelte den Kopf.Nicht wirklich.

Ich lasse dich jetzt los, sagte er und im gleichen Augenblick war er verschwunden. Ich war allein in der Kirche mit all ihren dunklen Schatten. Aber nur wenige Sekunden spä ter registrierte ich das Schwindelgefü hl in meinem Bauch und die Schatten begannen, sich zu drehen.

Da ist sie ja, sagte die Stimme von Mr George. Ich blinzelte ins Licht. Die Kirche war hell erleuchtet und die Halogenstrahier waren, verglichen mit dem goldenen Kerzenlicht in Lady Bromptons Salon, richtig unangenehm fü rs Auge.

Es ist alles in Ordnung, sagte Gideon, wobei er mir einen prü fenden Blick zuwarf.Sie kö nnen Ihren Arztkoffer wieder zusammenklappen, Dr. White.

Dr. White knurrte etwas Unverstä ndliches. Tatsä chlich war der Altar mit allerlei Gerä tschaften bestü ckt, die man eher auf einem dieser fahrbaren Tischchen in einem Operationssaal vermutet.

Lieber Himmel, Dr. White, sind das etwa Aderklemmen? Gideon lachte.Wie schö n zu wissen, was Sie von einer Soiree im 18. Jahrhundert halten.

Ich wollte fü r alle Eventualitä ten vorbereitet sein, sagte Dr. White, wä hrend er seine Instrumente in die Tasche zurü ckrä umte.

Wir sind sehr auf euren Bericht gespannt, sagte Falk de Villiers.

Erst einmal freue mich darauf, aus diesen Klamotten herauszukommen.Gideon knotete das Halstuch auf.

Hat denn alles... geklappt? , fragte Mr George mit einem nervö sen Seitenblick auf mich.

Ja, sagte Gideon, wä hrend er das Halstuch von sich warf.Es lief alles genau nach Plan. Lord Alastair kam zwar etwas spä ter als erwartet, aber noch rechtzeitig, um uns zu sehen.Er grinste mich an.Und Gwendolyn hat ihre Sache ausgezeichnet gemacht. Das echte Mü ndel des Viscount of Batten hä tte sich nicht vollkommener verhalten kö nnen.

Ich konnte nicht verhindern, dass ich rot anlief.

Es wird mir eine Freude sein, Giordano davon zu berichten, sagte Mr George mit Stolz in der Stimme und reichte mir seinen Arm.Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hä tte...

Nein, natü rlich nicht, murmelte ich.

 

Caroline weckte mich mit einem Flü stern:Gwenny, hö r auf zu singen! Das ist peinlich! Du musst in die Schule!

Ich setzte mich ruckartig auf und starrte sie an.Ich habe gesungen?

Was?

Du hast gesagt, ich soll aufhö ren zu singen.Ich habe gesagt, du sollst aufwachen! Ich habe also nicht gesungen?

Du hast geschlafen, sagte Caroline kopfschü ttelnd.Beeil dich, du bist schon wieder spä t dran. Und von Mum soll ich dir ausrichten, dass du auf keinen Fall ihr Duschgel benutzen sollst!

Unter der Dusche versuchte ich, die Erinnerungen an den gestrigen Tag mö glichst zu verdrä ngen. Aber es wollte mir nicht so recht gelingen, weshalb ich etliche Minuten damit vergeudete, meine Stirn gegen die Duschkabinentü r zu lehnen undDas habe ich alles nur geträ umtvor mich hin zu murmeln. Meine Kopfschmerzen machten es auch nicht gerade besser.

Als ich endlich ins Esszimmer hinunterkam, war die Frü hstü ckszeit glü cklicherweise schon so gut wie vorbei. Xemerius hing am Kronleuchter und baumelte mit dem Kopf.

Na, wieder nü chtern, kleine Saufnase?

Lady Arista musterte mich von Kopf bis Fuß.Ist das Absicht, dass du nur das eine Auge geschminkt hast?

Ä h, nein.Ich wollte wieder umdrehen, aber meine Mutter sagte:Erst frü hstü cken! Die Wimpern kannst du spä ter noch tuschen.

Frü hstü ck ist immer noch die wichtigste Mahlzeit des Tages, ergä nzte Tante Glenda.

Unsinn! , sagte Tante Maddy. Sie saß in ihrem Morgenmantel auf dem Lehnsessel vor dem Kamin und hatte ihre Knie angezogen wie ein kleines Mä dchen.Man kann das Frü hstü ck auch weglassen - damit spart man eine Menge Kalorien, die man abends in ein Glä schen Wein investieren kann. Oder auch zwei oder drei.

Die Vorliebe fü r alkoholische Geträ nke scheint in der Familie zu liegen, sagte Xemerius.

Ja, wie man sehr schö n an ihrer Figur sehen kann, flü sterte Tante Glenda.

Ich mag ein bisschen dick sein, aber keinesfalls schwerhö rig, Glenda, sagte Tante Maddy.

Du wä rst besser im Bett geblieben, sagte Lady Arista.Das Frü hstü ck ist fü r alle Beteiligten entspannter, wenn du ausschlä fst.

Das konnte ich mir leider nicht aussuchen! , sagte Tante Maddy.

Sie hatte wieder eine Vision heute Nacht, erklä rte mir Caroline.

Ja, allerdings, sagte Tante Maddy.Es war fü rchterlich. So traurig. Es hat mich schrecklich mitgenommen. Da war dieses wunderschö ne Herz aus geschliffenem Rubin, das in der Sonne funkelte... Es lag ganz oben auf einem Felsvorsprung.

Ich war mir nicht sicher, ob ich hö ren wollte, wie es weiterging.

Meine Mum lä chelte mir zu.Iss etwas, Liebling. Wenigstens ein bisschen Obst. Und hö r einfach nicht hin.

Und dann kam da dieser Lö we vorbei...Tante Maddy seufzte.Mit herrlichem goldenem Fell...

Uuuuuh, machte Xemerius.Und funkelnden grü nen Augen, wette ich.

Du hast da Filzstift im Gesicht, sagte ich zu Nick.

Psst, erwiderte er.Jetzt wird es doch gerade spannend.

Und als der Lö we das Herz dort liegen sah, versetzte er ihm mit seiner Pranke einen Hieb und das Herz fiel hinunter in die Schlucht, viele, viele Meter tief, sagte Tante Maddy und griff sich dramatisch an die Brust.Als es aufschlug, zersprang es in Hunderte von kleinen Stü cken, und als ich genau hinsah, erkannte ich, dass es lauter Blutstropfen waren...

Ich schluckte. Plö tzlich war mir ü bel.

Ups, sagte Xemerius.

Und weiter? , fragte Charlotte.

Nichts weiter, sagte Tante Maddy.Das war es schon -schrecklich genug.

Oh, sagte Nick enttä uscht.Es hatte so gut angefangen.

Tante Maddy funkelte ihn ä rgerlich an.Ich schreibe ja keine Drehbü cher, mein Junge!

Gott sei Dank, murmelte Tante Glenda. Dann wandte sie sich zu mir um, ö ffnete den Mund und schloss ihn wieder.

Stattdessen sprach Charlotte.Gideon hat erzä hlt, dass du die Soiree gut ü berstanden hast. Ich muss sagen, ich bin darü ber sehr erleichtert. Ich denke, alle sind darü ber sehr erleichtert.

Ich ignorierte sie und sah stattdessen vorwurfsvoll zum Kronleuchter hinauf.

Ich wollte dir gestern Abend schon erzä hlen, dass die Streberin noch zum Abendessen bei Gideon war. Aber - wie soll ich mich ausdrü cken? Du warst irgendwie ein bisschen... indisponiert, sagte Xemerius.

Ich schnaubte.

Kann ich doch nix dafü r, wenn dein Funkelsteinchen sie einlä dt, zum Essen dazubleiben.Xemerius stieß sich ab und flatterte quer ü ber den Tisch auf den leeren Platz von Tante Maddy, wo er sich aufrecht hinsetzte und den Eidechsenschwanz ordentlich um seine Fü ß e schlang.Ich meine, ich hä tte das an seiner Stelle auch getan. Zum einen hat sie den ganzen Tag Kindermä dchen fü r seinen Bruder gespielt und dann hat sie nebenher auch noch seine Wohnung auf Vordermann gebracht und seine Hemden gebü gelt.

Was?

Wie gesagt, ich kann nichts dafü r. Er war jedenfalls so dankbar, dass er gleich mal zeigen musste, wie schnell er ein Spaghettigericht fü r drei Personen zaubern kann... Mann, war der Junge gut gelaunt. Man hä tte denken kö nnen, er habe irgendwas eingeworfen. Und jetzt mach den Mund wieder zu, es starren dich schon alle an.

Das taten sie wirklich.

Ich gehe mir jetzt das andere Auge schminken, sagte ich.

Und vielleicht legst du auch ein bisschen Rouge auf, sagte Charlotte.Nur so als Tipp.

 

Ich hasse sie! , sagte ich.Ich hasse sie. Ich hasse sie!

Herrje! Nur weil sie seine Scheiß hemden gebü gelt hat? Leslie sah mich kopfschü ttelnd an.Das ist doch wirklich... albern!

Er hat fü r sie gekocht, jammerte ich.Sie war den ganzen Tag in seiner Wohnung!

Ja, aber dafü r hat er dich in der Kirche befummelt und abgeknutscht, sagte Leslie und seufzte.

Hat er nicht.

Ja, aber hä tte er gern.

Er hat Charlotte auch gekü sst!

Aber nur zum Abschied, auf die Wange! , brü llte Xemerius mir direkt ins Ohr.Ich glaube, wenn ich das noch einmal wiederholen muss, dann platze ich. Ich hau jetzt hier ab. Dieser Mä dchenkram bringt mich noch mal um.Mit ein paar Flü gelschlä gen flatterte er aufs Schuldach und machte es sich dort bequem.

Ich will kein Wort mehr darü ber hö ren, sagte Leslie.Viel wichtiger ist jetzt, dass du dich an alles erinnerst, was gestern gesagt wurde. Und damit meine ich Dinge, auf die es wirklich ankommt, du weiß t schon, die, bei denen es um Leben und Tod geht!

Ich habe dir alles erzä hlt, was ich weiß , versicherte ich ihr und rieb meine Stirn. Dank dreier Aspirin waren meine Kopfschmerzen weg, aber zurü ckgeblieben war ein dumpfes Gefü hl hinter den Schlä fen.

Hm.Leslie beugte sich ü ber ihre Notizen.Warum hast du Gideon nicht gefragt, bei welcher Gelegenheit vor elf Jahren er diesen Lord Alastair schon einmal getroffen hat und von welchem Fechtkampf die Rede war?

Es gibt noch viel mehr, das ich ihn nicht gefragt habe, glaub mir!

Leslie seufzte wieder.Ich werde dir eine Liste machen. Du kannst dann immer wieder mal eine Frage einstreuen, wenn es strategisch gerade gü nstig ist und deine Hormone es erlauben.Sie steckte den Block ein und sah zum Schultor hinü ber.Wir mü ssen hoch, sonst kommen wir zu spä t. Ich mö chte unbedingt dabei sein, wenn Raphael Bertelin das erste Mal unseren Klassenraum betritt. Der arme Junge - wahrscheinlich kommt ihm die Schuluniform vor wie eine Strä flingskluft.

Wir machten noch einen kleinen Umweg an James' Nische vorbei. Im morgendlichen Gedrä ngel fiel es nicht weiter auf, wenn ich mit ihm sprach, zumal Leslie sich so hinstellte, dass man denken konnte, ich sprä che mit ihr.

James hob sein parfü miertes Taschentuch an seine Nase und sah sich suchend um.Wie ich sehe, hast du die ungezogene Katze dieses Mal nicht mitgebracht.

Stell dir mal vor, James, ich war auf einer Soiree bei Lady Brompton, sagte ich.Und ich habe genauso geknickst, wie du es mir beigebracht hast.

Lady Brompton, so, so, sagte James.Sie steht nicht unbedingt in dem Ruf, ein guter Umgang zu sein. Auf ihren Gesellschaften soll es recht turbulent zugehen.

Ja, stimmt. Ich hatte gehofft, das wä re vielleicht der Normalfall.

Gott sei Dank nicht! James spitzte pikiert die Lippen.

Na, wie dem auch sei, ich glaube, ich bin nä chsten Samstag oder so auf einem Ball bei deinen Eltern eingeladen. Lord und Lady Pimplebottom.

Das kann ich mir nicht vorstellen, sagte James.Meine Mutter legt sehr viel Wert auf einwandfreien gesellschaftlichen Umgang.

Na, herzlichen Dank, sagte ich und wandte mich zum Gehen.Du bist wirklich ein Snob!

Das sollte keine Beleidigung sein, rief James mir nach.Und was ist ein Snob?

Raphael lehnte bereits in der Tü r, als wir zu unserem Klassenraum kamen. Und er sah so unglü cklich aus, dass wir stehen blieben.

Hi, ich bin Leslie Hay und das ist meine Freundin Gwendolyn Shepherd, sagte Leslie.Wir haben uns Freitag vor dem Bü ro des Direktors kennengelernt.

Ein schwaches Grinsen erhellte sein Gesicht.Ich bin froh, dass wenigstens ihr mich wiedererkennt. Ich hatte vorhin im Spiegel echt Probleme damit.

Ja, gab Leslie zu.Du siehst aus wie ein Steward auf einem Kreuzfahrtschiff. Aber daran gewö hnt man sich.

Raphaels Grinsen wurde breiter.

Du musst nur aufpassen, dass die Krawatte dir nicht in die Suppe baumelt, sagte ich.Passiert mir stä ndig.Leslie nickte.

Das Essen schmeckt ü brigens meistens furchtbar. Ansonsten ist es hier nur halb so schlimm. Ich bin sicher, du wirst dich bald wie zu Hause fü hlen.

Du warst noch nie in Sü dfrankreich, oder? , fragte Raphael ein wenig bitter.Nein, sagte Leslie.

Das merkt man. Ich werde mich niemals in einem Land wie zu Hause fü hlen, in dem es vierundzwanzig Stunden am Stü ck regnet.

Wir Englä nder mö gen es nicht, wenn man immer so schlecht ü ber unser Wetter redet, sagte Leslie.Ah, da kommt Mrs Counter. Sie ist - zu deinem Glü ck - ein bisschen frankophil. Sie wird dich lieben, wenn du ab und an wie aus Versehen ein paar franzö sische Wö rter in deine Sä tze einbaust.

Tu es mignonne, sagte Raphael.

Ich weiß , sagte Leslie, wä hrend sie mich weiterzog.Aber ich bin nicht frankophil.

Er steht auf dich, sagte ich und warf die Bü cher auf meinen Tisch.

Von mir aus, sagte Leslie.Aber er ist leider nicht mein Typ.

Ich musste lachen.Ja, klar!

Ach, komm schon, Gwen, es reicht, wenn einer von uns beiden den Verstand verloren hat. Ich kenne solche Typen. Die machen nur Probleme. Auß erdem ist er nur interessiert, weil Charlotte ihm gesagt hat, dass ich leicht zu haben bin.

Und weil du aussiehst wie dein Hund Bertie, sagte ich.

Ja, genau, und deshalb.Leslie lachte.Auß erdem wird er mich gleich vergessen haben, wenn Cynthia sich auf ihn stü rzt. Guck mal, sie war extra beim Friseur und hat sich neue Strä hnchen machen lassen.

Aber Leslie tä uschte sich. Raphael hatte offensichtlich wenig Interesse an einem Gesprä ch mit Cynthia. Als wir in der Pause auf der Bank unter der Kastanie saß en und Leslie wieder einmal den Zettel mit dem Code aus dem Grü nen Reiter studierte, kam Raphael angeschlendert, setzte sich ungefragt neben uns und sagte:Oh, cool, Geocaching.

Was? Leslie sah ihn ungehalten an.

Raphael deutete auf den Zettel.Kennt ihr nicht Geocaching? So eine Art moderne Schnitzeljagd mit GPS. Die Zahlen sehen ganz wie geografische Koordinaten aus.

Nein, das sind nur... wirklich?

Lass mal sehen.Raphael nahm ihr den Zettel aus der Hand.Ja. Vorausgesetzt, die Null vor den Buchstaben ist eine hochgestellte Null und steht damit fü r Grad. Und die Striche fü r Minuten und Sekunden.

Ein schriller Laut drang zu uns herü ber. Cynthia redete auf der Treppe wild gestikulierend auf Charlotte ein, woraufhin Charlotte bö se zu uns herü berschaute.

Oh Gott! Leslie wurde ganz aufgeregt.Dann heiß t es 57 Grad, 30 Minuten, 41.78 Sekunden Nord und 0 Grad, 08 Minuten, 49.91 Sekunden Ost?

Raphael nickte.

Es bezeichnet also einen Ort? , fragte ich.

Jaja, sagte Raphael.Einen ziemlich kleinen Ort von ungefä hr vier Quadratmetern. Und - was gibt es da? Einen Cache?

Wenn wir das wü ssten, sagte Leslie.Wir wissen ja nicht mal, wo das ist.

Raphael zuckte mit den Schultern.Das ist leicht herauszufinden.

Und wie? Braucht man dafü r ein GPS-Gerä t? Und wie funktioniert so was? Ich habe davon keine Ahnung, sagte Leslie aufgeregt.

Aber ich. Ich kö nnte dir dabei helfen, sagte Raphael.

Mignonne.

Ich sah wieder hinü ber zur Treppe. Dort stand jetzt auch noch Sarah neben Cynthia und Charlotte und alle drei starrten uns bö se an. Leslie merkte nichts davon.

Okay. Aber es muss heute Nachmittag sein, sagte sie.Wir haben nä mlich keine Zeit zu verlieren.

Ich auch nicht, sagte Raphael.Treffen wir uns doch einfach um vier im Park. Bis dahin dü rfte ich Charlotte irgendwie abgeschü ttelt haben.

Stell dir das mal nicht zu leicht vor.Ich warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

Raphael grinste.Ich glaube, du unterschä tzt mich, kleines Zeitreise-Mä dchen.

Wir kö nnen sehen, wie eine Tasse vom Tisch fä llt und in Scherben geht, aber wir werden niemals sehen, wie sich eine Tasse zusammenfü gt und auf den Tisch zurü ckspringt. Diese Zunahme der Unordnung oder Entropie unterscheidet die Vergangenheit von der Zukunft und verleiht der Zeit auf diese Weise eine Richtung.

 

(Stephen Hawking)

 

 


Ich hä tte doch einfach das Kleid von letzter Woche anziehen kö nnen, sagte ich, als Madame Rossini mir einen blassrosafarbenen Kleinmä dchentraum ü berstreifte, der ü ber und ü ber mit creme- und bordeauxfarbenen Blü ten bestickt war.Das blau geblü mte. Es hä ngt noch zu Hause im Schrank, Sie hä tten nur was sagen mü ssen.

Schscht, Schwanenhä lschen, sagte Madame Rossini.Was meinst du, wozu ich hier bezahlt werde? Damit du zweimal dasselbe Kleid anziehen musst? Sie widmete sich den kleinen Knö pfen am Rü cken.Ich bin nur ein wenig entsetzt, dass du deine Frisur zerstö rt hast! Im Rokoko musste so ein Kunstwerk tagelang halten. Die Damen schliefen extra im Sitzen.

Naja, aber ich konnte wohl kaum so in die Schule gehen, sagte ich. Wahrscheinlich wä re ich mit dem Haarberg schon in der Bustü r hä ngen geblieben.Wird Gideon von Giordano angekleidet?

Madame Rossini schnalzte mit der Zunge.Pah! Der Junge braucht dafü r keine Hilfe, sagt er! Das bedeutet, er wird wieder triste Farben tragen und das Halstuch unmö glich knü pfen. Aber ich habe es aufgegeben. So, was machen wir jetzt mit deinen Haaren? Ich hole schnell den Lockenstab und dann werden wir einfach ein Band hineinwinden, et bien.

Wä hrend Madame Rossini meine Haare mit dem Lockenstab bearbeitete, kam eine SMS von Leslie.Warte noch genau zwei Minuten, wenn le petit francais bis dahin nicht gekommen ist, kann er mignonne vergessen.

Ich schrieb zurü ck:Hey, ihr seid erst in einer Viertelstunde miteinander verabredet! Gib ihm wenigstens noch zehn Minuten.

Leslies Antwort bekam ich nicht mehr mit, denn Madame Rossini nahm mir das Handy aus der Hand, um die schon obligatorischen Erinnerungsfotos zu schieß en. Das Rosa stand mir besser als gedacht (im echten Leben war es so gar nicht meine Farbe...), aber meine Frisur sah aus, als hä tte ich die Nacht mit meinen Fingern in einer Steckdose verbracht. Das rosa Band darin wirkte wie ein vergeblicher Versuch, die explodierten Haare zu bä ndigen. Als Gideon kam, um mich abzuholen, kicherte er unverhohlen.

Lass das! Wenn, dann kö nnten wir ü ber dich lachen! , fuhr ihn Madame Rossini an.Ha! Wie du wieder aussiehst!

Gott, ja! Wie er wieder aussah! Das sollte wirklich verboten werden, so gut auszusehen - in albernen dunklen Kniehosen und einem bestickten flaschengrü nen Rock, der seine Augen zum Leuchten brachte.

Du hast doch keine Ahnung von Mode, Junge! Sonst hä ttest du die Smaragdbrosche angezogen, die zu diesem Outfit gehö rt. Und dieser unpassende Degen - du sollst einen Gentleman darstellen, keinen Soldaten!

Da haben Sie sicher recht, sagte Gideon und kicherte immer noch.Aber wenigstens sehen meine Haare nicht so aus wie diese Drahtschwä mmchen, mit denen ich meine Tö pfe sauber mache.

Ich bemü hte mich um einen hochnä sigen Gesichtsausdruck.Mit denen du deine Tö pfe sauber machst? Verwechselst du dich da nicht mit Charlotte?

Wie bitte?

Die putzt doch seit Neuestem fü r dich!

Gideon sah etwas verlegen aus.Das ist... so nicht... ganz richtig, murmelte er.

Ha, das wä re mir an deiner Stelle jetzt auch peinlich, sagte ich.Geben Sie mir bitte den Hut, Madame Rossini.Der Hut - ein riesiges Ungetü m mit blassrosa Federn - war auf jeden Fall weniger schlimm als diese Haare. Dachte ich jedenfalls. Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass das ein bedauernswerter Irrtum war.

Gideon kicherte wieder los.

Kö nnen wir dann? , fauchte ich.

Pass gut auf mein Schwanenhä lschen auf, hö rst du?

Mache ich doch immer, Madame Rossini.

Von wegen, sagte ich drauß en im Korridor. Ich zeigte auf das schwarze Tuch in seiner Hand.Keine Augenbinde?

Nein - das sparen wir uns. Aus bekannten Grü nden, erwiderte Gideon.Und wegen des Hutes.

Glaubst du immer noch, ich wü rde dich demnä chst um eine Ecke locken und dir ein Brett vor den Kopf hauen? Ich rü ckte meinen Hut zurecht.Ü brigens, darü ber hab ich noch einmal nachgedacht. Und inzwischen glaube ich, dass es fü r das Ganze eine einfache Erklä rung gibt.

Die da wä re? Gideon zog die Augenbrauen hoch.

Du hast es dir im Nachhinein eingebildet. Wä hrend du ohnmä chtig dalagst, hast du nä mlich von mir geträ umt und hinterher hast du deshalb die ganze Sache einfach mir in die Schuhe geschoben!

Ja, diese Mö glichkeit ist mir auch schon in den Sinn gekommen, sagte er zu meiner Ü berraschung, griff nach meiner Hand und zog mich vorwä rts.Aber - nein! Ich weiß, was ich gesehen habe.

Und warum hast du dann niemandem davon erzä hlt, dass es - angeblich - ich war, die dich in eine Falle gelockt hat?

Ich wollte nicht, dass sie noch schlechter von dir denken, als sie es ohnehin schon tun.Er grinste.Und - hast du Kopfschmerzen?

So viel hatte ich gar nicht getrunken..., sagte ich.

Gideon lachte.Nee, klar. Im Grunde warst du stocknü chtern.

Ich schü ttelte seine Hand ab.Kö nnen wir bitte ü ber was anderes reden?

Ach, komm schon! Ein bisschen werde ich dich doch wohl damit aufziehen dü rfen. Du warst so sü ß gestern Abend. Mr George dachte wirklich, du wä rst total erschö pft, als du in der Limousine eingeschlafen bist.

Das waren hö chstens zwei Minuten, sagte ich peinlich berü hrt. Wahrscheinlich hatte ich gesabbert oder sonst was Schreckliches getan.

Ich hoffe, du bist sofort ins Bett gegangen.

Hm, machte ich. Ich erinnerte mich nur noch dunkel, wie meine Mum mir alle vierhunderttausend Haarnadeln aus den Haaren gezogen und dass ich schon geschlafen hatte, bevor mein Kopf auf dem Kissen angekommen war. Aber das wollte ich ihm nicht sagen, er hatte sich schließ lich noch mit Charlotte, Raphael und den Spaghetti amü siert.

Gideon blieb so abrupt stehen, dass ich gegen ihn prallte und prompt vergaß zu atmen.

Er drehte sich zu mir um.Hö r mal..., murmelte er.Ich wollte das gestern nicht sagen, weil ich dachte, du bist zu betrunken, aber jetzt, wo du wieder nü chtern und kratzbü rstig bist wie eh und je...Seine Finger streichelten vorsichtig ü ber meine Stirn und ich war kurz davor zu hyperventilieren. Anstatt weiterzusprechen, kü sste er mich. Ich hatte die Augen schon geschlossen, bevor seine Lippen meinen Mund berü hrten. Der Kuss berauschte mich viel mehr, als es der Punsch gestern Abend getan hatte, er ließ meine Knie weich werden und tausend Schmetterlinge in meinem Bauch aufflattern.

Als Gideon mich wieder losließ, schien er vergessen zu haben, was er sagen wollte. Er stü tzte einen Arm neben meinem Kopf an die Wand und sah mich ernst an.So geht das irgendwie nicht weiter.

Ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.

Gwen...

Hinter uns im Gang ertö nten Schritte. Blitzschnell zog Gideon seinen Arm zurü ck und drehte sich um. Einen Wimpernschlag spä ter stand Mr George vor uns.Da seid ihr ja. Wir warten schon auf euch. Warum hat Gwendolyn die Augen nicht verbunden?

Das hatte ich ganz vergessen. Bitte machen Sie das, sagte Gideon und reichte Mr George das schwarze Tuch.Ich... ä h... gehe schon vor.

Mr George sah ihm mit einem Seufzer hinterher. Dann blickte er mich an und seufzte noch einmal.Ich dachte, ich hä tte dich gewarnt, Gwendolyn, sagte er, wä hrend er mir die Augen verband.Du solltest vorsichtig sein, was deine Gefü hle angeht!

Tja, sagte ich und fasste mir an die verrä terisch glü henden Wangen.Dann sollten Sie mich nicht so viel Zeit mit ihm verbringen lassen...

Das war ja wohl mal wieder typisch Wä chterlogik. Wenn sie verhindern hä tten wollen, dass ich mich in Gideon verliebte, dann hä tten sie auch dafü r sorgen mü ssen, dass er ein unattraktiver Blö dmann geworden wä re. Mit einem Deppenpony, schmutzigen Fingernä geln und einem Sprachfehler. Das mit der Violine hä tten sie auch besser sein gelassen.

Mr George fü hrte mich durch die Dunkelheit.Vielleicht ist es einfach zu lange her, dass ich sechzehn Jahre alt war. Ich weiß nur noch, wie leicht man in diesem Alter zu beeindrucken ist.

Mr George - haben Sie eigentlich irgendjemandem erzä hlt, dass ich Geister sehen kann?

Nein, sagte Mr George.Ich meine, ich habe es versucht, aber niemand wollte mir zuhö ren. Weiß t du - die Wä chter sind Wissenschaftler und Mystiker, aber mit Parapsychologie haben sie es nicht so. Vorsicht Stufe.

Leslie - das ist meine Freundin, aber wahrscheinlich wissen Sie das lä ngst -, also, Leslie meint, dass diese... Fä higkeit die Magie des Raben sei.

Mr George schwieg eine Weile.Ja. Das glaube ich auch, sagte er dann.

Und wobei genau soll mir die Magie des Raben helfen?

Mein liebes Kind, wenn ich dir das nur beantworten kö nnte. Ich wü nschte, du wü rdest mehr auf deinen gesunden Menschenverstand bauen, aber...

... aber der ist hoffnungslos verloren, wollten Sie sagen? Ich musste lachen.Wahrscheinlich haben Sie recht.

Gideon wartete im Chronografenraum auf uns, zusammen mit Falk de Villiers, der mir ein etwas zerstreutes Kompliment ü ber mein Kleid machte, wä hrend er die Zahnrä dchen am Chronografen in Bewegung setzte.

Also, Gwendolyn, heute findet dein Gesprä ch mit dem Grafen von Saint Germain statt. Es ist Nachmittag, ein Tag vor der Soiree.

Ich weiß , sagte ich mit einem Seitenblick auf Gideon.

Das ist keine besonders schwierige Aufgabe, sagte Falk.Gideon wird dich hinauf in seine Rä umlichkeiten bringen und dort auch wieder abholen.

Das hieß wohl, ich sollte allein mit dem Grafen bleiben. Sofort machte sich ein beklemmendes Gefü hl in mir breit.

Keine Angst. Ihr habt euch doch gestern so gut verstanden. Weiß t du nicht mehr? Gideon legte seinen Finger in den Chronografen und lä chelte mich an.Bereit?

Bereit, wenn du es bist, sagte ich leise, wä hrend sich der Raum mit weiß em Licht fü llte und Gideon vor meinen Augen verschwand.

Ich trat einen Schritt vor und reichte Falk meine Hand.

Die Parole des Tages lautet: Qui nescit dissimulare nescit regnare, sagte Falk, wä hrend er meinen Finger in die Nadel drü ckte. Der Rubin leuchtete auf und alles vor meinen Augen verwirbelte zu einem roten Farbstrom.

Als ich landete, hatte ich die Parole schon wieder vergessen.

Alles in Ordnung, sagte Gideons Stimme direkt neben mir.

Warum ist es hier so dunkel? Der Graf erwartet uns doch. Er hä tte uns ja netterweise eine Kerze anzü nden kö nnen.

Ja, aber er weiß nicht genau, wo wir landen, sagte Gideon.

Warum nicht?

Ich konnte es nicht sehen, aber es kam mir so vor, als ob er mit den Schultern zuckte.Er hat noch nie danach gefragt und ich habe das unbestimmte Gefü hl, dass es ihm nicht so angenehm wä re, dass wir sein geliebtes Aichemielabor als Start- und Landebahn missbrauchen. Sei vorsichtig, hier ist alles voller zerbrechlicher Gegenstä nde...


:

mylektsii.su - - 2015-2024 . (0.047 .)