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Yildiz weiss nicht mehr, wo sie eigentlich zu Hause ist
Irgendwann erwachte Yildiz aus einem unruhigen Schlaf. Vielleicht hatte ihre Mutter doch Recht, wenn sie in die Tű rkei zurű ckwollte. Dort wű rde sie zwar eine Fremde sein - so wie hier -, aber niemand wű rde sie dafű r hassen. Sie hatte Angst hier zu bleiben, aber sie hatte die gleiche Angst wegzugehen. Ich bin nirgendwo mehr zu Hause, dachte sie. Wenn ich doch tot ware, wű nschte sich Yildiz. Dann wű rden sie um mich trauern und mich in einem schonen Sarg in die Tű rkei bringen lassen. Zu meinem Begrabnis wű rde auch Mehmet kommen, mit dem die Verwandten mich verheiraten wollen. Er wird nicht sehen, dass ich mein langes Haar nicht mehr habe. Markus wű rde sicher nicht dabei sein. Einmal habe ich ihm davon erzä hlt, was mein Name bedeutet und warum meine Eltern ihn mir gegeben haben. Er hat mein Haar zwischen seinen Fingern gehalten und gesagt: „Ich kann mir gut vorstellen, dass darin ein Stern glanzt." Dann hat er mich gekű sst. Das war wunderschon. Der Gedanke, nicht mehr weiterzuleben, beschä ftigte sie lange. Aber immer wieder schob sich die Frage dazwischen: Warum hassen sie uns so? Vielleicht habe ich es bisher nur nicht gespű rt und die anderen Deutschen denken auch so. Vielleicht haben sie Angst um ihre Arbeit, wollen uns los sein, weil sie denken, wir nehmen ihnen was weg. Hat Mama Recht, wenn sie zurű ckwill? Aber was erwartet uns denn dort? Ich bin doch hier geboren, denke Deutsch. Was soil dann aus mir werden? Am spä ten Nachmittag hö rte Yildiz unten einen lauten Streit. Erschrocken sprang sie auf und rannte zur Tű r. Da erkannte sie die Stimmen von Murat und Markus. „Verschwinde, ich will dich hier nie wieder sehen! ", schrie Murat. „Und warum? ", schrie Markus zurű ck. „Frag doch deinen Bruder, frag ihn nach dem beschmier-ten Roll-Laden, den durchstochenen Reifen und der Sache im Laden! " Markus versuchte sich zu verteidigen. „Was kann ich fű r Ben? Ich bin nicht dafű r verantwortlich. Ich will nur wis-sen, was mit Yil ist. Sie war nicht in der Schule." „Lass die Finger von meiner Schwester..." Yildiz zog schnell ihren Jogginganzug an. „Hö rt auf zu streiten! ", rief sie den beiden zu, als sie in den Laden kam. „Was kann Markus dafű r, wenn sein Bruder Neonazi ist? " „Wenn er nichts dagegen tut...", schrie Murat jetzt Yildiz an. Aber mitten im Satz stockte er und starrte seine Schwester an. „Wie siehst du denn aus? " „Wie immer", antwortete Yildiz und versuchte zu lä cheln. Ihr Bruder kam auf sie zu und zeigte auf ihren Kopf. „Was soil das? " „Ach, die Haare meinst du? ", sagte sie. „Gefallt dir die Frisur? " Murat schű ttelte nur den Kopf. „Bist du verrű ckt geworden? Die schonen langen Haare..." „Na und? Jetzt sind sie kurz. Ausserdem wachsen sie wieder. Aber lass Markus in Ruhe. Er ist mein Freund." Markus ging ein paar Schritte auf Murat zu. „Murat, ich mag deine Schwester. Und das mit Ben - ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich verstehe auch nicht, was er..." Weiter kam er nicht. Murat unterbrach ihn. „Darű ber reden wir noch unter vier Augen, verstanden? " Dann stű rmte er die Treppe hoch. „Komm mit zu mir rauf." Yildiz zog Markus einfach hinter sich her. Aber Markus blieb mitten auf der Treppe stehen. „Ich wollte nur nach dir schauen. Jetzt gehe ich besser. Aber ich komme wieder. Und deine neue Frisur gefallt mir ű brigens auch." Als Markus aus dem Laden war, kam Murat wieder her-unter. Yildiz fauchte lhn wű tend an: „Meine Angelegen-heiten gehen dich gar nichts an, hö rst du! " Fatma Toluk kam gerade vom Einkaufen zurű ck. Sie hatte die letzten Worte zwischen Murat und Yildiz noch gehö rt und gesehen, wie Murat danach wű tend in den Hof hinauslief. „Hat es Streit gegeben zwischen Murat und dir? " „Auch", sagte Yildiz. „Aber besonders zwischen Murat und Markus. Deswegen bin ich ja ű berhaupt runtergegan-gen. Die hatten sich beinahe geprű gelt. Wenn Murat er-fahrt, was wirklich passiert ist, gibt's eine Katastrophe. Er darf es nie erfahren, Mama. Versprich mir das. Bitte." Fatma Toluk nickte nur. Sie dachte: „Diese Schande! Nie-mand darf das erfahren." Nach drei Tagen stand Yildiz auf. Sie wusste, Vater wű rde bald aus der Tű rkei zurű ckkommen. Mutter hatte ihn am Telefon beruhigt: „Lass dir Zeit. Im Laden lä uft alles bestens. So eine weite Reise macht man nicht fű r ein paar Tage." Mutter hatte tű rkisch gesprochen. Aber Yildiz verstand, dass ihr Vater irgendwelche Probleme hatte. Yildiz und ihre Mutter hatten in Ruhe ű ber alles gesprochen und gemeinsam einen Ausweg gesucht. Aber sie hatten keinen anderen gefunden, als zu schweigen. Wenn Ulrike und Anna anriefen, um sich zu erkundigen, wie es ihr ginge, sagte Yildiz: „Mir geht es schon viel bes-ser. Ich bin bald wieder in der Schule." Besucht werden wollte sie nicht. Bei Markus hatte sie mit ihren Ausreden keinen Erfolg. Sie sass in der Kű che, als er eines Nachmit-tags vor ihr stand. „Ich habe versucht, deinen Bruder zu erreichen. Ich wollte mit ihm reden." Yildiz schű ttelte den Kopf. „Das hat keinen Sinn. Momentan kann nicht mal ich mit ihm reden." Er fragte sie, warum sie sich die Haare hatte schneiden lassen. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und erzä hlte wieder die Geschichte, die sie mit der Mutter verabredet hatte. Sie war froh, dass sie ihm dabei nicht in die Augen schauen musste. Nach einer Pause sagte sie: „Tut mir Leid, das mit Murat. Sei nicht bose auf ihn. Der hat doch nur Angst um mich. Aber ich habe ihm gesagt, dass du nicht wie Ben bist." Markus nickte. „Verstehen kann ich ihn ja. Aber er muss auch unterscheiden. Er darf nicht denken, dass alle gleich sind." Als er ging, fuhr er Yildiz schnell ű ber das kurze Haar. „Lass es wieder wachsen. Yili. Langes Haar steht dir wirk-lich besser." Wenn das so einfach ware, dachte Yildiz. Es ist alles viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst.
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